Einsatz für den Aussatz

Marianne Stöger und Margit Pissarek, zwei Schwestern der Gemeinschaft Ancillae Christi Regis (ACR), setzten sich in Südkorea jahrzentelang gegen Lepra ein. In einer Feierstunde am 7. Oktober 2016 will die Diözese Innsbruck den beiden Dank für ihr Lebenswerk aussprechen.

Wie zwei Tiroler Ordensfrauen furchtlos zu „Engeln der Aussätzigen-Insel Sorokdo“ wurden  

 Vor 100 Jahren wurde die südkoreanische Insel Sorokdo zur Insel der Aussätzigen. 1916 ist Korea von Japan besetzt, das heutige Nord- und Südkorea zu dieser Zeit noch ein einziges Land. Die „kleine Hirscheninsel“, wie Sorokdo auch genannt wird, bezaubert durch die intensive grüne Vegetation. Inmitten dieser atemberaubenden Landschaft steht ein Denkmal für 10.770 Verstorbene. „Menschliche Kadaver“ – als mehr galten Leprakranke damals nicht. Auf dieser Insel sterben leprakranke Frauen, nachdem sie zu Abtreibungen gezwungen oder gegen ihren Willen sterilisiert wurden. Männer sterben, nachdem sie mit dem Rest ihrer faulenden Gliedmaßnahmen Sklavendienste leisten. Andere sehen mit starren oder erblindeten Augen ihrer Zukunft entgegen: Sie wissen nicht, ob sie für medizinische Experimente vorgesehen sind oder mit ihren zerfallenden Fußstumpfen langsam dem Tod entgegengehen. Sie wissen bloß, sie sind Aussätzige, sie werden die Insel nie wieder verlassen.

 

Unbeschwert in die Welt 

Zur gleichen Zeit, in den Dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, sieht in Matrei am Brenner Marianne Stöger beim unbeschwerten Spiel mit ihren Geschwistern einen Zitronenfalter. Fast ehrfurchtsvoll betrachtet sie ihn. Haben sie doch ihre Eltern gelehrt, die Natur zu achten. Aber schon ist ihre Aufmerksamkeit beim kleinen Bruder. Hat doch der Kaplan gesagt: „Steht nicht herum, schaut euch um! Die Welt braucht euch.“

Ebenfalls in diesen Jahren und ebenfalls in Tirol beschließt Margritha Pissarek für sich: „Ich will ehelos bleiben, um für die anderen da zu sein.“ Die Eltern der beiden Mädchen sorgen für sie, geben, was sie vermögen. „Vor allem waren sie immer mit ihrem Beispiel da. Sie haben uns behütet und beschützt“, berichten Margaritha und Marianne übereinstimmend. Margaritha: „Es waren gute Eltern, die mehr oder weniger religiös waren, aber sie waren gut.

 

Versteckte Not ist unsichtbar – Menschen sehen 

Leopold Engelhart ist Großstadtseelsorger im Wien der Zwanzigerjahre. Er sieht die Not der mehr als 200.000 Arbeitslosen und Ausgesteuerten. Tausende sind aus der Kirche ausgetreten. Engelhart erkennt, wie überfordert die Pfarrer sind. „Helfer brauchen wir!“, sagt er, und sammelt Frauen um sich, die bereit sind, den Priestern zur Hand zu gehen. Der Ruf vom Wirken jener, die sich des Elends annehmen, verbreitet sich im Stillen in Österreich. So entsteht langsam die Schwesterngemeinschaft, die wie Maria dienen und „auf Christus hören und sein Werk fortführen will“. Die Gemeinschaft nimmt den Namen „Ancillae Christi Regis“ – Dienerinnen Christi des Königs – an. Armut – Ehelosigkeit – Gehorsam sind die Eckpfeiler ihres christlichen Lebens. Schwestern, die im Sinne eines Säkularinstituts allein mitten in der Welt leben.

 

Augen, Hand und Herz offen 

Marianne und Margaritha haben inzwischen die Krankenpflegeschule bei den Kreuzschwestern absolviert. Der Ruf hat sie nicht losgelassen. Sie haben von den „Pst-Pst-Schwestern“ gehört. Anders darf man nicht über sie sprechen, das „ist streng geheim“, weiß Marianne. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei und Menschen sind wieder bereit für Abenteuer. Abenteuer für den Frieden, den Aufbau. Der spätere Vorarlberger Bischof Bruno Wechner gewinnt Marianne und Margaritha für die junge Schwesterngemeinschaft „Ancillae Christi Regis“. Der Aufruf eines Bischofs kommt da im richtigen Moment. „In Korea brauchen wir Krankenschwestern als Unterstützung!“ Der Bischof möchte nicht weiter zusehen, wie Frauen auf der Insel zu Abtreibungen und Sterilisation gezwungen werden. Mit Zustimmung des Lagerleiters erbittet er Krankenschwestern.

Korea hat die Besatzungsmacht Japan hinter sich. Es kommt zur Trennung Koreas in Nord- und Südkorea. Sorokdo bleibt den Aussätzigen. Dort, auf der südkoreanischen Insel – so hörten die beiden Krankenschwestern – gibt es etwas zu tun. Dort warten Kranke und Aussätzige, über 6.000 Leprakranke. In sieben Barackendörfern vegetieren sie dahin. Harte Betonböden, keine Betten, vergitterte Fensterlöcher, primitiv. Die koreanische Gesellschaft will von ihnen nichts wissen, und ihre Familien auch nicht. Eine Herausforderung, die beide Tirolerinnen mit innerer Freude und einem mutigen, kräftigen Glauben riskieren. Für drei oder vier Jahre wollen sie helfen. 1959 schifft sich Sr. Margaritha nach Korea ein und 1962 Sr. Marianne.

Die Schwestern finden einen Platz in einer der einfachen und schmutzigen Hütten auf der Insel Sorokdo, um wie die Aussätzigen – am Betonboden zu schlafen. Sie arbeiten in einem primitiven Haus, wo sie die Kinder versorgen. Den Schwestern verdanken viele Kinder ihr Leben. Sie füttern, sprechen, verbinden, trösten. Nach drei Jahren dürfen sich auch die Eltern selbst um ihre Kinder kümmern.

 

Ohne Angst 

Aussätzige werden ausgesetzt, abgesondert – wie die Leprakranken auf Sorokdo. Marianne und Margritha gehen hin zu den Aussätzigen. Sie sagen: „Angst haben wir nicht!“ Für Ärzte ist das unfassbar. Sie wissen: „Morbus Hansen“, die gefürchtete Lepra, abstoßend, ekelig, nicht anzuschauen ist. Schutzkleidung, Handschuhe gibt es für die Schwestern keine. Sie pflegen die Patienten mit bloßen Händen, während die Ärzte aus Angst vor Ansteckung jeden Kontakt meiden. In Indien bilden sich die Krankenschwestern fort und bringen neues Wissen auf die Insel. Die beiden Tirolerinnen pflegen jahrelang geduldig und ohne Ekel, organisieren finanzielle Unterstützung in ihrer Heimat, wechseln Verbände, sorgen für gute Hygiene und ausreichende Ernährung. Sie sind für die Menschen in Sorokdo, für die Ärzte und das Pflegepersonal und die Behörden in Südkorea Vorbild. Erste geheilte Inselbewohner können nach Hause zurückkehren, werden von den Familien wieder aufgenommen.

Die blinden Aussätzigen können ihre „Großmütter“, wie sie die Frauen aus Tirol inzwischen nennen, nicht sehen. Aber sie erzählen von ihnen. Auch die Ärzte und der Lagerleiter sehen staunend, was vor ihren Augen geschieht. Die beiden Schwestern werden geehrt, erhalten den „Südkoreanischen Nobelpreis“ und tragen mit dem Preisgeld zur Erweiterung und Verbesserung der Situation der Aussätzigen bei.

„Das Evangelium Christi gibt uns die Kraft durchzuhalten und für die Kranken da zu sein“, lautet der Grundsatz von Margaritha und Marianne. Sie kamen für drei Jahre und blieben vier Jahrzehnte bei den Ausgestoßenen als Krankenschwestern. Mehr als Krankenschwestern: Missionarinnen, weil sie durch ihr Tun die Liebe Christi den Menschen vorlebten.

 

Danke Sorokdo – Grüß Gott, Tirol 

Die Tiroler Schwestern geben auf der koreanischen Leprainsel, was sie geben können. Einfach alles. Das Pensionsalter rückt näher, sie beschließen, nach Tirol zurückzukehren: „Wir mussten zurückkehren! Wir wollten nicht den Menschen in Sorokdo zur Last fallen.“ Sie bleiben ihrer Berufung treu, für die anderen da zu sein, die eigenen Bedürfnisse unterzuordnen. Still, wie sie gekommen sind, verlassen Sr. Marianne und Sr. Margaritha im Jahre 2005 Sorokdo und hinterlassen den Menschen von Sorokdo eine Botschaft:

„Wir haben mit unseren Kollegen gesprochen und gesagt, dass wir vielleicht weggehen müssen, bevor wir zu alt und zu einer Last für andere werden. Wir dachten, dass es nun an der Zeit sei, unseren Worten Taten folgen zu lassen. Danke für den großen Respekt und die Liebe, die Sie uns entgegengebracht haben, und bitte vergeben Sie uns, falls wir als Nichtkoreanerinnen jemals Ihre Gefühle verletzt haben sollten.“

Sie wissen um ihr Werk, aber sie trauern nicht wehmütig. „Seit meiner Kindheit lebe ich in der Gegenwart. Nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Ich lebe in der Gegenwart. Es war eine wunderschöne Zeit, aber es ist vorbei“, sinniert Sr. Margaritha beim Gespräch mit dem „Werk-Satz“.

„Heimat ist dort, wo ich zu Hause bin“, stellt Sr. Margaritha gelassen fest. „Das Ordensleben hat hier für uns genauso Bedeutung“. Heute sehen sie ihre Aufgabe im Annehmen des Leidens und im Gebet.

„Gott hat uns zu diesem Dienst gerufen“, sind Sr. Marianne und Sr. Margaritha, überzeugt. „Mein Leben wäre nichts gewesen ohne Gott“, ist sich Sr. Marianne sicher: „Er war uns immer nahe und hat es uns immer neu gezeigt durch das Leiden Christi am Kreuz. Er ist in Schmerzen gestorben, deshalb können wir mit Freude unser Leben und unseren Glauben leben. Wenn man das versteht und erkennt, dass Jesus in uns lebt, dann kann man jeden Menschen lieben.“

 

Sorokdo heute 

Das Hospital feiert sein hundertjähriges Bestehen. Die Insel ist mit dem Festland durch eine Brücke verbunden. Die Isolation der „Aussätzigen“ hat damit nach außen ein Ende. Die innere Isolation braucht noch Geduld und Zeit. Die Baracken dienen als lebendiges Zeugnis für vergangene schreckliche Zeiten und sind Kulturgut. Die Kranken sind heute in hellen, freundlichen Zimmern untergebracht. Nur einige der ältesten Bewohner erinnern sich noch an die kalten Böden, an das menschenunwürdige Dasein.

In Südkorea hat sich schnell herumgesprochen, dass im Sommer 2016 einer der „Engel von Sorokdo“ auf Besuch kommt. Marianne hat die Reise noch einmal auf sich genommen und Eva Oberhauser von der Katholischen Frauenbewegung in Österreich fährt mit: „Einer der Entstellten erzählte mir nach der gemeinsamen Messe, dass ihn die Schwestern gefüttert hatten, wie ein Kind. Er überlebte. Er war so glücklich zu leben. Er war außer sich, dass ich aus dem Land komme, aus dem die beiden Schwestern stammen. Und er umarmte mich. Ganz fest. – Und es war mir wurscht, wie er aussah.“

Sr. Marianne und Sr. Margaritha sind zwei von drei ausländischen Ehrenstaatsbürgerinnen Südkoreas. Frachtschiffe sind nach ihnen benannt.

Für die Menschen auf Sorokdo sind Marianne und Margaritha lebendige, sichtbare Boten Gottes. Sie brachten Zuwendung, Aufmerksamkeit und Heil aus einem fernen Land – aus Österreich, aus Tirol. In Südkorea werden sie schon seit vielen Jahren als „Engel von Sorokdo“ erkannt. Auch Österreich dankt den Schwestern Anfang Oktober im Rahmen einer Feierstunde in Innsbruck.

 

Die Insel ist jetzt zugänglich. Die Regierung hat inzwischen das Unrecht anerkannt und trägt die Krankheitskosten. Den Opfern wurde erst kürzlich Schadenersatz zugesprochen. „Meine größte Freude war es jedes Mal, wenn Patienten entlassen wurden“, erzählt Sr. Marianne, „die Patienten durften die Insel verlassen und konnten nach Hause zurückkehren“.

Wie ein roter Faden zieht sich die Treue Gottes durch ihr Leben: „Gehorsam heißt für uns, auf Gott zu hören und darauf zu achten, was Gott jetzt von dir will“, sagt Sr. Marianne. Fest steht: So würden die beiden Schwestern es wieder machen.“

 

KMA – Katholische Medienakademie

Christoph Gstaltmeyr

 http://www.kma.at/

 

 

  

Auf dem Bild sind Sr. Margaritha und Sr. Marianne
Sr. Margaritha und Sr. Marianne, die Engel von Sorokdo, Foto Christoph Gstaltmeyr.