Das lebendige Wort Gottes übersetzen

Predigt von Bischof Hermann Glettler am 1. Adventsonntag 2018 anlässlich der Präsentation des neuen Lektionars

Wir beginnen den Advent. Eine Zeit höherer Aufmerksamkeit, eine Zeit des genaueren Hinhörens und Hinschauens auf unser Leben, auf das persönliche Lebensumfeld und auf die Welt. Das allein wäre noch nicht Advent. Es ist die Zeit des Aufhorchens, des genaueren Hinhörens auf das kostbare Wort unter dem vielen Geschwätz, auf das andere, heilende Wort unter der unerträglichen Überfülle an Informationen und News. Wir verwenden heute im Gottesdienst erstmals die neue Bibelübersetzung von 2016, d.h. die revidierte Einheitsübersetzung, die nun auch Eingang findet in die Lektionare für die sonntäglichen Gottesdienste. Wirkliche Übersetzungsarbeit gelingt nur nach einem wirklichen Hinhören, möglichst filterlos, möglichst unbefangen und neugierig auf das Wort Gottes.

1.     Up-Cycling – eine neue Wertschätzung der Heiligen Schrift 

Alte Schätze heben! So könnte ein Werbeslogan für das Wiederentdecken der Heiligen Schrift lauten. Mit Entsetzen denke ich zurück an den fahrlässigen Umgang mit unseren Schulbibeln – es waren Gratisbücher im Rahmen der Schulbuchaktion. Sie sind irgendwo im Klassenzimmer herumgelegen, landeten nicht selten am Boden, einige waren komplett zerfledert, andere wurden schließlich mit Papiermüll entsorgt. Ähnlich respektlos ist der Umgang mit der Bibel, wenn sie irgendwo im Haus vergammelt, verstaubt und früher oder später auch der Entsorgung anheimfällt.

Vor Kurzem konnte ich anlässlich der Teilnahme am „Klima Forum Tirol“ das Up-Cycling Studio in der Haller Straße Nr. 43 in Innsbruck besuchen. Beim Upcycling werden Abfallprodukte in neuwertige Produkte umgewandelt. Im Gegensatz zum Downcycling kommt es bei dieser Form des Recyclings zu einer Aufwertung des Vorhandenen. Mich hat in diesem alternativen Studio nicht nur die gemeinschaftliche Atmosphäre des Arbeitens beeindruckt, sondern vor allem auch die freigesetzte Kreativität, die sich um einen Gegenentwurf zum sorglosen Konsumieren und Verschwenden versteht. Wörtlich könnte man den Vorgang übersetzen mit: Auf ein neues Niveau heben, wieder in die Umlaufbahn tatsächlicher Verwendung bringen, zugänglich und brauchbar machen.

Für viele ist die Bibel alt und unbrauchbar geworden. Heute ist der Anlass, neu hinzuhören und sich ansprechen zu lassen. Lebendig ist das Wort Gottes! Es ist kein vom Himmel gefallenes, auch nicht ein „herabgesandtes“ Buch, sondern ein gewachsenes Dokument dafür, dass Gott lebendig ist und dass er von Anfang an, also von Abraham an mit uns Menschen kommuniziert. Das Wort Gottes ist Gottes lebendige Gegenwart, mit der er unsere Gedanken und Herzen erobern möchte.

2.     Das Wort Gottes wirkt – es führt in die Krise und tröstet 

Nicht wenige Leute haben den Eindruck, dass die Bibel eine Ansammlung von frommen Sprüchen sei, weltfremd und irrelevant für den Alltag. Das Gegenteil ist der Fall. In der Heiligen Schrift ist uns Gottes Wort überliefert, das herausfordert, in die Krise, d.h. in die Entscheidung führt und zu einem radikal neuen Blick auf das Leben einlädt. Das ist alles andere als harmlos. Gottes Wort lebendiges Wort ist uns gegeben in der Form und Übersetzung eines menschlichen Wortes. Gott bedient sich einer menschlichen Sprache und eines jeweils begrenzten Horizonts kultureller Prägungen und Vorgaben, um verständlich zu sein und nahe am Pulsschlag der Menschen. Neben dem hebräischen Urtext der Schriften des Ersten Bundes, sind die griechische Septuaginta und die Vulgata, die Übersetzung der Heiligen Schrift ins Lateinische, die für uns verbindlichen Urfassungen der Heiligen Schrift. Die Übersetzungen in die deutsche Sprache haben im ausgehenden Mittelalter begonnen und mit Martin Luther einen ersten Höhepunkt erreicht. Von da an gab es immer wieder ein notwendiges „up-date“ betreffend Sprache und zeitgemäße Verständlichkeit bis in unsere Tage. Die Nähe zum Urtext und nicht eine eingeschliffene Umgangssprache waren für die Überarbeitung der Einheitsübersetzung 2016 ausschlaggebend. Aber hören wir jetzt den Text des Propheten.  

In der ersten Lesung haben wir heute das Trostwort gehört, das Jeremia im Namen Gottes dem verzweifelten jüdischen Volk nach der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier zugesprochen hat: „Zur bestimmten Zeit wird es einen Nachkommen geben, der Recht und Gerechtigkeit wirken wird.“ In der alten Übersetzung hieß es, dass er „sich sorgen wird um Recht und Gerechtigkeit“. Die neue Textvariante ist am ursprünglich Gemeinten näher dran: Es geht nicht nur um das Versprechen, dass sich irgendwer mal sorgen wird, sondern dass es einen Sproß aus dem Volk geben wird, der tatsächlich das Schicksal des Volkes in die Hand nehmen wird. Er, dem man sogar den Namen „der Herr ist unsere Gerechtigkeit“ geben wird, wird das neue Heil wirken! Stärkere Zusage, damit ein stärkerer Trost! Er verspricht nicht nur, sondern auf ihn ist Verlass.

Es tut uns gut, diese feine Nuance zu beobachten. Schließlich zweifeln heute nicht wenige daran, ob Gott wirklich in die Geschichte eingreifen kann und eingreifen will. Ist Religion nicht nur ein schönes System von Vertröstungen auf ein besseres Irgendwann, ein himmlisches Danach? Die großen Religionskritiker des 19. Jahrhunderts haben dies pointiert formuliert. Die Anfrage bleibt. Wir leben in der Verheißung. Manchmal haben wir nur das starke, aber letztlich auch wieder nackte Wort Gottes, an dem wir uns anhalten können – und möglicherweise Menschen, die es „persönlich“ übersetzt haben.

3.     Wir brauchen die praktischen Übersetzer und Übersetzerinnen des Wortes Gottes 

Bei einer gewöhnlichen Übersetzungsarbeit schlägt man im Wörterbuch oder im Duden nach, um Wortbedeutungen zu finden, um die feinen Abweichungen im Wortgebrauch nicht zu übersehen und vieles mehr. Wenn eine ganz mechanische Übertragung eines Textes von einer Sprache in die andere ausreichend ist, dann empfiehlt sich die Übersetzungshilfe von Google.

Wie ist das nun mit dem Wort Gottes. Wir hören es in unserer Muttersprache und trotzdem ist es uns oft sehr fremd. Wer leistet nun die konkrete Übersetzungshilfe? Wie ist der Aufruf zur Wachsamkeit im heutigen Evangeliumstext zu verstehen? Es gibt zu viele Menschen, die „vor Angst vergehen“. Ängste werden heute so wie zu allen Krisenzeiten raffiniert geschürt, gezielt eingesetzt und für alle möglichen Interessen instrumentalisiert. Wie also das Wort Gottes verstehen, das eine gegenteilige Haltung empfiehlt: „Wenn all das beginnt, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter!“ Die Empfehlung lautet nicht: Versteckt euch, verkriecht euch, geht in den Bunker! Noch erstaunlicher die Begründung dafür. Nicht die Vernichtung oder Auslöschung des menschlichen Geschlechts ist nahe, sondern die Erlösung! Aufschauen ist adventlich. Aufschauen zum Herrn der Geschichte, der alles in seinen Händen hält. Wer sich in die Heilige Schrift vertieft, wer mit einer persönlichen Lektüre beginnt und an diesem Wort „kaut“, der wird immer deutlicher Jesus vor Augen haben. Er ist Gottes lebendiges Wort in Person – herausfordernd und tröstend.

Es braucht Menschen, die eine nötige Übersetzungsarbeit leisten. Menschen, die mit Mut, Geduld und Vertrauen schon bewiesen haben, dass Gott tatsächlich wirkt. Dass er mit seinem Geist menschliche Herzen stärken kann, eine innere Widerstandskraft gegen alle falschen Stimmen einpflanzt und die Gnade des Vertrauens schenkt. Alle, die sich in dieser Weise lebenspraktisch vom Wort Gottes leiten lassen, werden für andere zu Übersetzungshelfer/innen. Nahe, verständlich und lebensrelevant. Die Präsentation des neuen Lektionars ist ein Anstoß, diesen Auftrag neu zu hören.

Wenn nun das Wort Gottes so gehört wurde, kann es verstanden werden und unser Leben prägen – es kann sich aus-wirken. Letztlich ist es nicht das Wort Gottes, das ein Up-cycling braucht, sondern umgekehrt. Das Wort Gottes bringt uns auf die Höhe der Zeit, weckt uns auf, um im Heute unseres Lebens Ja zum Leben, Ja zum Willen Gottes zu sagen.