Bischof Scheuer: Soziale Gerechtigkeit braucht Barmherzigkeit

Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind für das Erreichen von sozialer Gerechtigkeit unverzichtbar, betont Bischof Manfred Scheuer: "Wenn wir nur die Gerechtigkeit predigen, können wir zu unmenschlichen Aktivitäten kommen".

Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind laut dem Tiroler Bischof Manfred Scheuer für das Erreichen von sozialer Gerechtigkeit unverzichtbar: "Wenn wir nur die Gerechtigkeit predigen, können wir zu unmenschlichen Aktivitäten kommen", warnte Österreichs "Caritas-Bischof" bei einem Vortrag im Marillac-Haus der Barmherzigen Schwestern in Innsbruck. Die Barmherzigkeit beschrieb Scheuer als "liebende, offene, wahrnehmende und hörende Aufmerksamkeit, welche das Leiden anderer sieht und es sich zu Herzen gehen lässt".
Die von der Kirche hochgehaltene Barmherzigkeit sei in der Geschichte stark kritisiert worden - etwa von Friedrich Nietzsche, der sie als "weiblichen Egoismus" bezeichnete und in ihr eine Vermehrung des Leidens und Entwürdigung der Leidenden gesehen habe, bemerkte der Bischof. Ähnlich skeptisch auch Karl Marx: Almosen seien nur ein Alibi, Caritas eine Systemstütze und Mildtätigkeit eine Kumpanei mit Ausbeutern, da Menschen zu abhängigen Wesen gemacht und die Ursachen von Unrecht und Elend nicht überwunden würden.
Manche Kritik sei zwar berechtigt, sie habe jedoch eine Kehrseite, betonte Scheuer: "Kälteströme" würden dort entspringen, wo menschliche Not "gesehen und doch übersehen" werde und Mitleid und Barmherzigkeit "eigentlich nicht sein dürften". Allzu leicht könne Leistungs- und Erfolgsdenken zu Rücksichts- und Erbarmungslosigkeit umschlagen sowie zu einer nur noch allgemeinen Philanthropie, die den Blick des konkreten Menschen in Not nicht mehr aushalte. Beschleunigt werde dies durch die narzisstische Flucht in die Subjektivität, beobachtbar bei Menschen, die aufgrund nicht geheilter Verwundungen unfähig seien zu Liebe, Selbstannahme und zum "Mit-Leiden".
Auch von der Dauerreflexion, die in ewiger Problematisierung niemals zum Handeln vorstoße, würden "Kälteströme" ausgehen, und selbst das "kirchliche Pochen auf die reine Lehre und auf das Gesetz" verkenne die Wirklichkeit des konkreten Menschen, warnte der Bischof. Wo Nächstenliebe nur noch an Institutionen ausgelagert werde, entstehe eine "Gesellschaft der Passanten, die sich teils voyeuristisch aus der Ferne am Elend anderer begeilen und sich nicht zuständig fühlen". Scheuer weiter: "Eine rein auf Funktionalität basierende Welt lässt den einzelnen Menschen den Kältetod sterben."
Dem Evangelium ein Gesicht geben
Erst im Zusammenspiel von Gerechtigkeit und geschenkte Gnade liege "der große Weg, um zu sagen: Dein Reich komme", betonte Scheuer. Ohne freie Gnade verkomme Gerechtigkeit zu rigorosem Fanatismus, Terror und Gewaltherrschaft, wiewohl auch eine "kontur- und profillose Rede" von Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit "bestehende versklavende Unrechtsverhältnisse sanktioniert und die Liebe verrät".
Ebenso wie Jesus im Gleichnis des Barmherzigen Samariters eine "andere Form des Sehens" gefordert habe, könnten auch Christen heute "dem Evangelium ein Gesicht geben": Dies sei dann der Fall, wenn sie im Blick des Notleidenden den Anspruch "Du darfst mich nicht gleichgültig liegen lassen, du darfst mich nicht verachten, du musst mir helfen", erkennen, so Scheuer. Zentrale Eigenschaft der Nächstenliebe sei ein "Aufwachen und Augen öffnen", lehre Jesus doch eine "Mystik der geöffneten Augen und damit der unbedingten Wahrnehmungspflicht für das Leid anderer", zitierte der Bischof den Theologen Johann Baptist Metz.
Tiefster Wesensgrund der Nächstenliebe (lat. "Caritas") sei das Bewusstsein, umsonst und absichtslos zu geben, aus Dankbarkeit für selbst umsonst Empfangenes. Scheuer: "Es geht nicht um gönnerische Großzügigkeit, die an der Leine hält und Applaus oder Dankbarkeit erwartet. Echte Barmherzigkeit kennt keine Gegenforderungen und schafft keine Abhängigkeiten." Um den Empfangenden nicht zu demütigen, müsse sich der Geber völlig zurückziehen und sogar zugunsten der Tat übersehen werden wollen; verzweckte oder berechnende Zuwendung wäre hingegen eine Perversion zu Lieblosigkeit und Kälte. (Quelle: KATHPRESS) 

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