Bischof Glettler: Dankbarkeit und Vergebung machen den Menschen schön

Wortlaut der Ansprache von Bischof Hermann Glettler bei der Jahresschlussandacht am 31. Dezember 2017 im Innsbrucker Dom zu St. Jakob.

Es hat hier scheinbar eine Tradition mit dem Unwort des Jahres die Predigt zum Abschluss des Jahres zu beginnen. Heuer hat dieses unvorteilhafte Ranking das Wort „Vollholler“ gewonnen. Was damit gemeint ist, versteht sich vielleicht zu rasch. Zur zweifelhaften Berühmtheit gelangte das Wort im Juni 2017, also noch vor dem Getöse des Wahlkampfs. Was ist denn ein „Vollholler“?

Die Namen und Früchte gebende Holunderstaude ist ein extrem wertvolles Gewächs. Ich kenne sie vom Bauernhof, auf dem ich aufgewachsen bin. An der Böschung gewachsen, für uns Kinder ideal zum Spielen, Klettern und versteckte Häuser bauen; die Blütenstrauben haben nicht nur einen besonderen Duft verbreitet, sie wurden auch von unserer Mutter mit einem Teig aus Ei und Mehl gebacken – eine extrem köstliche Süßspeise! Ebenso hat sie die Blüten in einem gesüßten Wasser eingelegt, um den köstlichen Holunderblütensaft, einen Sirup zum Verdünnen, zu produzieren. Am liebsten jedoch war mir der Holunderröster, der aus den reifen Holunderbeeren gemacht wurde, eingelegt und aufgekocht mit Brot, Milch, Zucker und Zimt. Nicht vergessen möchte ich das winterliche Schnapsbrennen meines Großvaters, bei dem die Holundermaische den größten Anteil ausmachte. Das Endprodukt war der nicht nur als Medizin verwendbare Hollerschnaps. So zeigt schon diese kurze Aufzählung der Wohltaten des geschmähten „Vollhollers“, dass wir mit den beleidigenden Zuschreibungen aufpassen sollten. So manches unbedacht für Schimpf und Schande verwendete Wort entpuppt sich als ein Segenswort. Wenn es uns – und auch der neuen Regierung – nur gelingen möge, einen wirklichen Vollholler zu produzieren! Also ein Werk, das nahezu zu allen Jahreszeiten seine Bedeutsamkeit und seinen Nährwert erweist. Es lebe der „Vollholler“! Allen, die ihn zum Schimpfwort gemacht haben, sei diese Dummheit vergeben.

 

1. Ein Rückblick mit Dank und Sorge 

Mein persönlicher Rückblick auf das vergangene Jahr ist von Dankbarkeit geprägt. Trotz des anfänglichen Schocks, für das Bischofsamt in der Diözese Innsbruck ernannt worden zu sein, hat sich mittlerweile Freude und Zuversicht eingestellt. Ich danke ganz herzlich allen, die mir ein gutes Ankommen in Tirol und einen guten Start im Dienst der Leitung dieser Ortskirche ermöglicht haben. Gerne habe ich meine Bereitschaft ausgedrückt, mit ganzer Energie, mit meinen Talenten – incl. Meiner Defizite und Schwächen – aber vor allem mit einer grundsätzlichen Freude für die Menschen unseres Landes als Hirte im Auftrag Jesu da zu sein. Mit Gottes Hilfe bin ich bereit und lade alle zu einem gemeinsamen Weg ein. Unsere Weggemeinschaft soll von der Vielfalt unterschiedlicher Berufungen und spiritueller Ausrichtungen und zugleich von einer erkennbaren Einheit geprägt sein. Das Leitwort, das ich anlässlich der Weihe gewählt habe, gibt uns die Richtung vor und soll uns in den kommenden Jahren vor Resignation, kirchlicher Eigenbrödeleiund Lieblosigkeit bewahren: Geht, heilt und verkündet! Eine bunte, in Vielfalt versöhnte Kirche ist wunderschön, macht aber auch viel Arbeit (Zitat angelehnt an Karl Valentin). Jede/r einzelne von uns sollte sich dieser Aufgabe stellen.

Dankbarkeit ist der Schlüssel für ein gelingendes Leben. Wer dankt, verabschiedet sich von einer Haltung des Forderns und Einklagens von Ansprüchen, die längerfristig meist nur zuUnzufriedenheit und Verbitterung führt. Danken entspannt. Danken löst Verkrampfungen. Danken hilft, das Leben wahr- und anzunehmen, wie es ist. Dankbarkeit ist eine von Gott geschenkte Daseinserleichterung. Danken schafft Freude. Gerne möchte ich zukünftig eine Spiritualität der Dankbarkeit noch weiter vertiefen und vielen zugänglich machen. Dankbarkeit ist nicht zuletzt auch der Königsweg zu einem persönlichen Glauben. Danken führt schließlich zum Verständnis, dass wir unser Leben insgesamt jemandemverdanken. Niemand von uns hat sich selbst erfunden oder ins Dasein gerufen. Diese Einsicht, dieses Wissen öffnet den Blick auf Gott, den großzügigen Urquell von Leben. 

Einem aufmerksamen Rückblick auf das Jahr 2017 können jedoch auch nicht die vielen alten und neuen Krisenherdeentgehen, sowie die vielen Ereignisse, die uns die Gefährdung eines menschenwürdigen Lebens auf unserem Globus vor Augen führen. 
Stellvertretend für viele Konflikte erwähne ich den Völkermord an der muslimischen Minderheit der Rohingyasin Myanmar. Der seit Jahren andauernde Konflikt in diesem vom Buddhismus geprägten und regierten Land Südostasiens war Ende August eskaliert, als Rohingya-Rebellen Soldaten und Polizisten angriffen und Dutzende Sicherheitskräfte töteten. Das Militär reagierte mit Gegengewalt. Hunderte Menschen wurden im nördlichen Teilstaat Rakhineumgebracht, ihre Häuser niedergebrannt. Mehr als 600.000 Rohingya flüchteten ins benachbarte Bangladesch. Die UNO spricht mit Recht von "ethnischen Säuberungen“. Am schlimmsten trifft es wieder einmal Kinder und zahllose Frauen, die durch beobachtete Massenvergewaltigungen gedemütigt wurden.
Stellvertretend für die vielen Länder, die aufgrund von ungerechten Bedingungen einer rücksichtslos auf maximalen Profit ausgerichteten Weltwirtschaft und unter – teilweise auch durch den voranschreitenden Klimawandel verursachten – Naturkatastrophen leiden, erwähne ich den Südsudan. Ich hatte die Möglichkeit, Anfang Juni im Auftrag der Caritas Auslandshilfe dieses ostafrikanische Land zu bereisen. Was ich gesehen habe, hat mich – obwohl ich schon einiges an Elend in Afrika persönlich gesehen habe – an Intensität von Not und Erschöpfung überrascht. Ein jahrelanger Bürgerkrieg, der die Vertreibung von mehr als einer Million Menschen zur Folge hat, eine andauernde Hungerkatastrophe und eine allgemeine Perspektivenlosigkeit treiben die Menschen in eine tödliche Verzweiflung. Trotzdem habe ich auch sehr vielePersonen, kirchliche Hilfsorganisationen und Pfarrgemeinden kennen gelernt, die aus der Kraft unseres Glaubens versuchen, der großen Not etwas entgegen zu halten. Das Zeugnis ihres Lebens ist gerade für uns, die wir im Zustand einer „Zuvielisation“ mit Wohlstandsproblemen beschäftigt sind, enorm wichtig. Die einzige Antwort auf das Auseinanderklaffen der verschiedenen Welten unserer einen Welt kann nur der feste Entschluss zu einer möglichst solidarischen Lebensweise, die Bereitschaft zum Teilen und ein leidenschaftliches Gebet füreinander sein. Nur auf diese Weise lässt sich eine ernsthafte weltweite Verbundenheit aufbauen und stärken. Wir gehören als Menschheitsfamilie zusammen! 

Von der weiten Welt zurück in unser Land: Der Rückblick auf die Wahlkämpfe des abgelaufenen Jahres in Österreich lässt uns nicht nur dankbar das Funktionieren einer lebendigen Demokratie festhalten, sondern zeichnet auch ein Bild mit vielen unbarmherzigen Ausgrenzung und Polarisierungen, die tiefe Risse bis hinein in Familien- und Freundeskreise hinterlassen haben. Es gab eine unselige Allianz der großen Parteien zulasten von Menschen, die als Fluchtreisende gekommen sind und sich nichts sehnlicher wünschen als eine neue Heimat mit realen Zukunftsperspektiven. Sie wurden als Bedrohung für den Frieden in unserem Land gebrandmarkt. Ähnlich ist es jenen Personengruppen ergangen, deren Bewältigung der alltäglichen Anforderungen durch Sozialleistungen unterstützt wird. Sie mussten sich den pauschalen Vorwurf des „Sozialschmarotzertums“ gefallen lassen. Es bleibt zu hoffen – dass trotz einiger Besorgnis erregender Details im neuen Regierungsprogramm – diese unverantwortliche Marginalisierung der schwächsten Glieder unserer Gesellschaft nicht salonfähig wird.

 

2. Versöhnung als Lebensaufgabe 

Es ist notwendig, dass wir unsere Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung wieder neu entfachen. Wir haben den Auftrag, „dieser Welt, die so voller Dissonanzen ist, nicht den kleinsten Missklang hinzuzufügen“. Das ist ein Zitat von Etty Hillesum, datiert mit 29. Mai 1942. Die niederländisch-jüdische Lehrerin wurde bekannt durch ihre posthum veröffentlichten Tagebücher. Sie hat in Amsterdam gelebt und während der Nazi-Herrschaft kurzfristig auch im sogenannten Judenratgearbeitet. Am 30. November 1943 wurde sie im Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau ermordet. Ich hatte die Möglichkeit, eine szenische Lesung ihrer Tagebücher im November in Wattens mitzuerleben. Ihr tiefsinniges Fragen nach Gott, ihre offene Sprache zum Ausdruck ihrer Gefühle und erotischen Empfindungen, sowie ihre beständige Mühe, in einer Zeit der offenkundigen Aggression gegenüber Juden und anderen Minderheiten, nicht in die Haltung einer Gegen-Aggression und Rache zu verfallen, hat mich tief beeindruckt. Etty wollte „ein Pflaster auf vielen Wunden sein“ (Eintragung vom 13. Oktober 1942) und stellt die vielleicht schönste Frage zur Berechtigung unseres Daseins auf dieser Erde: „Früchte tragen, und Blumen, auf jedem Flecken Erde, wo man gepflanzt wurde – wäre das nicht der Sinn? Und sollen wir nicht mithelfen, diesen Sinn zu verwirklichen?“

2017 wurde mit großer öffentlicher und ökumenischer Anteilnahme das Luther-Gedenkjahr begangen. Wir haben in neuer Weise erfahren, dass wir als Schwestern und Brüder, die durch das Bekenntnis zum dreifaltigen Gott geeint sind, einen gemeinsamen Auftrag in unserer Gesellschaft haben. Ich freue mich über alle Initiativen, die uns als Christen unterschiedlicher Konfessionen im Gebet und im Dienst an den Menschen zusammenbringen. Vieles ist diesbezüglich schon geschehen und vieles liegt noch vor uns. Diese Sehnsucht nach Einheit darf nicht ermüden, aber auch nicht die leidenschaftliche Freude an den Schätzen unseres katholischen Glaubens trüben. Wir sind eine sakramental verfasste Kirche, die einen konkreten Leib und eine eucharistische Mitte hat. 

Abschließend zur dankbaren Erwähnung des Reformationsjahres bringe ich ein Zitat von Martin Luther, das uns eine wichtige Spur in dieser Jahresschlussandacht anzeigt:„Am Ende des Lebens gibt es nur mehr zwei Fragen zu beantworten: „Wem muss ich vergeben und wem muss ich um Vergebung bitten?“ Diese Fragen sind geeignet, sie sich jeden Tag, jede Woche und zum Abschluss des Jahres zu stellen.Aus meiner langjährigen seelsorglichen Praxis und speziell aus der Begleitung von sterbenden Menschen weiß ich, dass jede Form von Unversöhnlichkeit und „Nichtvergeben“ eine ganz schwere Last für den Abschied darstellen. Menschen, die unversöhnt sterben,  nehmen eine große Bürde mit und lassen gleichzeitig eine große Last zurück. Nur Versöhnung ermöglicht ein inneres Loslassen und das Geschenk eines tiefen Friedens. „Vergebung und Versöhnung sind jedoch keine einfachen Take-it-easy-Übungen. Es ist schwere und auch schmerzhafte Arbeit. Ein Ringen mit vielen Höhen und Tiefen, mit Vorankommen und Rückschritten.“ (Georg Schärmer)

Letztlich wird uns dieser heilsame und befreiende Akt nur mit der Hilfe Gottes gelingen. Wir dürfen auf ihn zählen. Einem Neubeginn steht nichts im Weg. Versöhnung ist möglich. In unserer Kirche haben wir dafür auch ein ganz kostbares Sakrament. Es ist keine Schande, einen Priester aufzusuchen, und um den Zuspruch der Versöhnung in der Beichte zu bitten. Und vergessen wir nicht: Nie ist ein Mensch so schön – wie wenn er Vergebung annimmt und auch selbst vergibt.

Wir schließen das Jahr 2017 mit Dankbarkeit ab und gehen zuversichtlich in das Neue Jahr 2018. Es wird ebenso wie das vergangene ein „Jahr des Herrn“ sein. Jesus Christus ist der Mensch gewordene Gott, lebendig mitten unter uns. Seine Gegenwärt trägt und nährt uns. Sein Mitgehen relativiert die vielen menschlichen Ängste, die uns allen in unterschiedlicher Intensität bekannt sind. Sein Wort gibt unserem LebenRichtung und Sinn. Seine Liebe beschenkt und befähigt uns, auf jene Menschen zu achten, die uns in besonderer Weise aufgegeben sind. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft haben das Recht, uns mit einer Überfülle von Sorgen zu besetzen. Entscheidend ist das Heute. Es ist das göttliche Zeitwort. Jesus, der Herr, ist das Heute Gottes. In seinem Namen lasst uns Gott für Alles danken und zuversichtlich neu beginnen!

Bischof Hermann Glettler, 31. Dezember 2017