Abschlussvorlesung: Vielfach-Krisen verlangen nach neuer Geschwisterlichkeit

Innsbrucker Theologe Palaver: "Nur die glaubwürdig vorgelebte Geschwisterlichkeit kann einen Beitrag für die Welt leisten"

Angesichts der Vielfach-Krisen wie Klimakrise, Flüchtlingskrise, Krise der Demokratie und (Atom)Kriegsgefahr, die aktuell die Welt bedrohen, ruft der Innsbrucker Theologe Prof. Wolfgang Palaver zu einem interreligiösen Schulterschluss auf. Es brauche eine neue Form "interreligiöser Geschwisterlichkeit", die sich vom Gedanken der "Kenosis" (Selbstentäußerung) leiten lasse - d.h. vom Gedanken eines Zurücktretens und Raumgebens und der Absage an Besitzgier, Macht und Hybris, so Palaver bei einem Vortrag am Freitagabend in Innsbruck. Nur so könne Geschwisterlichkeit zu einer "Voraussetzung von Demokratie und Frieden" werden.

Der Vortrag stellte zugleich Palavers Abschiedsvorlesung an der Universität Innsbruck dar. Seit 2002 hatte Palaver bis zu seiner jetzigen Emeritierung an der Innsbrucker Katholisch-Theologischen Fakultät als Professor für Christliche Gesellschaftslehre gelehrt. Palaver gilt als einer der führenden Experten für die Erforschung des Zusammenhangs von Gewalt und Religion. Zuletzt forschte Palaver u.a. zu Fragen der Friedensethik Gandhis. Er ist außerdem Präsident von Pax Christi Österreich.

Geschwisterlichkeit sei eine zweischneidige Sache, wies Palaver etwa auf den biblischen, tödlichen Konflikt zwischen Kain und Abel oder auf die Erzählung von Josef und seinen Brüdern hin. Zu einer Kraft des Friedens werde Geschwisterlichkeit nur dann, wenn sie sich dieser Gefahren bewusst werde und sich einer "demütigen Haltung" verschreibe. Ein solches Verständnis von Geschwisterlichkeit sei dabei durchaus säkular vermittelbar, verwies Palaver etwa auf Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, in der es in der früheren Diktion der "Brüderlichkeit" heißt: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen."

Auch in modernen Gesellschafts- und Demokratietheorien sei das Thema aktuell. Selbst linke Demokratietheorien wie jene der französischen Politologin Chantal Mouffe, die den Streit und Konflikt in der Demokratie betont, kommen letztlich nicht ohne Ideen einer "geschwisterlichen Gesellschaft" aus. Ähnliches habe der Vater der Verfassung, Hans Kelsen (1881-1973), betont, wo er davon sprach, dass Demokratie nach gegenseitigem Respekt verlange, der andere "nicht als Feind, sondern als gleich und daher als Freund" betrachte.

Auch heutige Denker wie Hartmut Rosa oder Michael Sandel würden - unter anderen Begrifflichkeiten - ein Moment der Geschwisterlichkeit in ihren Gesellschaftsmodellen integrieren, welches in Demut dem anderen gegenüber bzw. dem Berührt-werden vom Leiden des Nächsten bestehe.

Die Aufgabe der Kirche bestehe heute vor diesem Hintergrund darin, ein "erster Ort der Soziallehre" zu sein, schloss Palaver. Damit dies gelinge, brauche es jedoch auch eine Besinnung auf die gelebte Praxis innerhalb der Kirche: "Nur die glaubwürdig vorgelebte Geschwisterlichkeit kann einen Beitrag für die Welt leisten".

Dank von Universität und Kirche
An der Abschiedsvorlesung von Wolfgang Palaver im Festsaal der Universität Innsbruck nahmen zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft teil. Unter anderen dankten Vizerektor Bernhard Fügenschuh und Wilhelm Guggenberger als Dekan der Katholisch-Theolgischen Fakultät für Palavers Einsatz in Forschung, Lehre und Selbstverwaltung. 

Für die Diözese Innsbruck sprach Dompropst Huber Grußworte im Namen von Bischof Hermann Glettler. Darin wurde Palaver u.a. als  "wichtiger Gesprächspartner" und kritisch-loyaler Gläubiger geehrt, und sein Engagement für Gewaltlosigkeit und die Friedensforschung hervorgehoben. Als Vertreter des Jesuitenordens dankte P. Bruno Niederbacher für die Verbundenheit. "Wolfgang Palaver lebt das jesuitische Motto 'Für Glaube und Gerechtigkeit' in Wort und Tat", sagte er.

Festschrift zur "Politik des Evangeliums"
Eröffnet worden war die Abschiedsvorlesung zuvor mit einer Vorpremiere des Films "Rene Girard: Der lange Weg von der Gewalt zur Liebe" von Regisseurin Johanna Tschautscher. Palaver, die Sozialethikerin Petra Steinmair-Pösel und das Schweizer Ehepaar Samuel Jakob und Ruth Jakob-Gautschi sprechen darin über Grundlagen der Mimetischen Theorie Girards und deren Bedeutung für ein Leben in Gewaltfreiheit. 

Der Festabend endete mit der Übergabe einer Festschrift zu Ehren Palavers mit dem Titel "Politik des Evangeliums - Politics of the Gospel". An dem Werk haben Fachkolleginnen und -kollegen des Theologen u.a. aus dem "Colloquium on Violence & Religion", aber auch Persönlichkeiten aus Kirche und Gesellschaft mitgewirkt. Der Band wird ab kommender Woche bei "innsbruck university press" als Open-Access-Publikation verfügbar sein und enthält u.a. ein persönliches Vorwort von Martha Girard, der Witwe von Rene Girard.

Biografische Notizen
Wolfgang Palaver wurde am 27. September 1958 in Zell am Ziller geboren und studierte selbständige Religionspädagogik, Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. 1990 promovierte er bei Prof. Walter Kern mit einer Arbeit zu Politik und Religion bei Thomas Hobbes im Licht der Mimetischen Theorie Rene Girards. 1997 folgte die Habilitation in Christlicher Gesellschaftslehre mit einer Arbeit über Carl Schmitts Freund-Feind-Theorie. Seit 2002 lehrte Palaver Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. 

Von 2004 bis 2013 war er Leiter des Instituts für Systematische Theologie, von 2013 bis 2017 Dekan der Theologischen Fakultät. Er war außerdem von 2007 bis 2010 Leiter des Forschungszentrums Religion - Gewalt - Kommunikation - Weltordnung. Außerdem ist er Präsident von Pax Christi Österreich.

 

Eoine Meldung von www.kathpress.at

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