Sind Sie nachtragend? (Luitgard Derschmidt)

Sind Sie nachtragend? Ich schon, wenn ich gekränkt werde und diese Verletzung nicht vergessen kann. Dass das Nachtragen nichts bringt und mich selbst belastet, wurde mir auf einem mehrtägigen Seminar „Die Kraft des Vergebens“ mit Sr. Melanie Wolfers klar.

Nachtragen belastet. Zwei Teilnehmerinnen, die sich freiwillig gemeldet haben, wurden gebeten, in die Rollen einer Verletzerin und einer Verletzten zu schlüpfen. Der Auftrag war, dass die Verletzte sich aus den am Boden liegenden großen Steinen einen aussucht, den sie der Verletzerin schweigend nachtragen soll. Sie hat sich dann sogar zwei genommen und ist einfach der andern nachgegangen, ungefähr 10 Minuten. Sie hat sich Hilfe bei einem Teilnehmer, der Priester war, holen wollen, er möge ihr die Steine tragen. Da ist sie abgeblitzt, da will er nicht mittun. Sie hat dann jemand anderen gefunden. Der hat ihr die Steine sogar abgenommen. Da waren es dann zwei, die der Verletzerin nachgegangen sind. Je länger diese Übung gedauert hat, desto beklemmender wurde sie.  Die Verletzerin wurde verfolgt und  hatte eigentlich  keine Chance,  etwas zu klären. Die Verletzte hat sich selbst mit den Steinen belastet und mit der Verfolgung gefesselt.

Loslassenkönnen befreit.  Es ist hilfreich, Abstand zu gewinnen, sozusagen einen Schritt zurückzutreten, den Blick zu weiten und das Geschehen in eine größere Realität einzuordnen. Dabei ergeben sich neue Blickwinkel. Wenn man eine Beziehung  mit dem Bild eines Baumes vergleicht und ein Ast stirbt ab und wird schwarz, so ist man versucht, nur auf diesen schwarzen Ast zu starren. Aber es ist weder sinnvoll noch klug, sich von dem verdorrten  Ast total besetzen zu lassen und dabei den ganzen übrigen Baum mit seinen Zweigen, Blättern, Blüten und Früchten nicht mehr wahrzunehmen. Aus einer gewissen Distanz kann man manches auch besser verstehen. Vielleicht auch: wie schaut es da bei mir aus? „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“

Vergeben braucht Zeit. Vergeben, so konnte ich erfahren, ist ein Prozess, der befreit, auf den man sich aber auch nur freiwillig einlassen kann. Ein Prozess, der seine Zeit braucht und ein Weg, der nicht ganz leicht zu gehen ist. Schon immer habe ich mich darüber geärgert, dass das „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ dazu benutzt wurde, Menschen, vor allem Frauen, zu nötigen, Ungerechtigkeiten zu erdulden, Verletzungen zu ertragen und zu vergeben, ohne sich schützen zu können. Unrecht bleibt Unrecht und auch verheilte Wunden sind als Narben sichtbar. Menschliche Prozesse können im Glauben nicht übersprungen werden. Aber ohne den Willen zur Versöhnung geht es auch nicht.

Vergebung kann nicht gemacht werden, sie muss entstehen können. Im Alten oder Ersten Testament wird erzählt, dass übermäßige Kränkung Hagar in die Wüste treibt. Da begegnet  ihr ein Engel. Indem sie ihren Schmerz mit(jemand)teilen kann, erfährt sie Gottes Nähe. Gott gibt Raum, er ermöglicht, dass etwas geschehen kann.  So kann man zu innerem Frieden finden und den wünschen wir uns doch alle.

Jesus tritt nach seiner Auferstehung unter seine Jünger und wünscht ihnen den Frieden. Dann zeigt er ihnen seine Wunden und bietet nochmals den Frieden.

Der Buchtipp: Melanie Wolfers: „Die Kraft des Vergebens“ Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden. Verlag Herder