Ziegler: 'Aufstand des Gewissens' gegen 'Raubtierkapitalismus'
Iin einem Interview mit der diözesanen Wochenzeitung "Tiroler Sonntag" übt der Schweizer Soziologe Jean Ziegler scharfe Kritik an der kapitalistischen Weltordnung, die zur ungleichen Verteilung der Güter beiträgt.
Für einen "Aufstand des Gewissens" angesichts der massiven weltweiten sozialen Ungerechtigkeiten hat der Schweizer Soziologe und Buchautor Jean Ziegler plädiert. Im Interview mit der Kirchenzeitung Tiroler Sonntag spricht Ziegler von einen "Raubtierkapitalismus", der die Weltordnung heute beherrscht. Dieser Kapitalismus funktioniere mit Konkurrenz, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt.
"Dieses Konkurrenzdenken muss ersetzt werden durch - die Christen sagen: Liebe", so der Soziologe: "Der Sinn des Lebens erwächst daraus, dass ich in der freien Beziehung zu einem anderen Menschen das bekomme, was ich nicht habe. Eine soziale Ordnung, die nicht auf wechselseitigen Beziehungen und wechselseitigen Ergänzungen beruht, ist zum Scheitern verurteilt. Deshalb hat jeder Einzelne von uns Verantwortung zu tragen, die Welt zu ändern."
Der revolutionärste Text dazu steht nach Ansicht Zieglers im Matthäus-Evangelium. In Kapitel 25 sage Jesus: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Ziegler: "Das ist das Prinzip der sozialen Weltordnung, das wir heute mit den Gütern, die wir produzieren, mit dem Überschuss, den wir haben, etablieren müssten."
Laut Armutsbericht der Hilfsorganisation Oxfam besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung mehr an Vermögen, als die restlichen 99 Prozent der verbleibenden Menschheit. Ziegler: "Das ist eine unglaubliche soziale Ungleichheit." Nach dem Welternährungsbericht der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Knapp eine Milliarde Menschen sind permanent schwerst unterernährt. Im selben FAO-Bericht wird aber auch dargelegt, dass die Weltlandwirtschaft bei dem heutigen entwickelten Stand der Technik problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung.
Ziegler dazu: "Es gibt heute zum ersten Mal in der Geschichte der Menschen keinen objektiven Mangel mehr und es ist möglich, allen 7,2 Milliarden Menschen auf dieser Erde ein materiell genügsames Leben zu verschaffen, wenn wir die sozialen Strukturen ändern würden. Hunger ist menschengemacht. Ein Kind, das jetzt an Hunger stirbt, wird ermordet. Und diese kannibalische Weltordnung müssen wir stürzen."
Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel
Einer der Hauptgründe für den Hunger auf der Welt sei die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel wie Mais, Getreide und Reis. Diese Nahrungsmittel würden etwa 75 Prozent des Weltkonsums abdecken. Ziegler: "Ich habe genug Prozesse am Hals gehabt und sage es ganz deutlich: Die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel ist absolut legal; aber sie hat verheerende Folgen." Der Weltmarktpreis auf Mais sei etwa in den letzten fünf Jahren um 38,1 Prozent gestiegen, der für Reis um 32,8 Prozent und der Preis für die Tonne Weizen habe sich verdoppelt. Wenn nun der Weltmarktpreis auf Grundnahrungsmittel wegen der Spekulanten explodiert, dann würden andererseits Millionen Kinder mehr sterben.
Ziegler: "In Österreich, Deutschland, Frankreich, das sind alles Demokratien, könnte morgen früh, wenn die öffentliche Meinung der Menschen erwachen würde, das Parlament gezwungen werden, das Börsengesetz zu ändern." Ein anderes Beispiel wäre, sich für die Totalentschuldung der 50 ärmsten Länder der Welt einzusetzen. Alles, was es dazu braucht, sei ein"Aufstand des Gewissens".
Der Schweizer Soziologe und Buchautor Jean Ziegler ist Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats. Bis 1999 war er Nationalratsabgeordneter im Schweizer Parlament. Von 2000 bis 2008 arbeitete der emeritierte Professor der Universität Genf als Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung. (KATHPRESS)
Buchtipp:
Im Bertelsmann-Verlag ist das neue Buch "Andere die Welt" von Jean Ziegler erschienen. Es enthält Argumente und Fakten dazu, "warum wir die kannibalistische Weltordnung stürzen müssen", so der Untertitel des Buches. Das Buch kostet 20,60 Euro und ist im Buchhandel erhältlich.
