Tagung in Innsbruck: Wie geht’s jetzt weiter?

Hochkarätige RednerInnen suchten an der Theologischen Fakultät in Innsbruck neue Lösungen im Umgang mit Krisen

Bischof Hermann Glettler lud am Samstag, 30. April 2022, ExpertInnen unterschiedlicher Fachbereiche nach Innsbruck, um über gegenwärtige lokale und globale Herausforderungen und mögliche Lösungswege zu diskutieren. Mit dabei waren u. a. Friedens- und Kriegsberichterstatter Fritz Orter, AK-Chefökonom Markus Marterbauer, Falter-Herausgeber Armin Thurnher, Caritas-Direktorin Elisabeth Rathgeb und der Philosoph Egon Christian Leitner. 

 

Bischof Hermann Glettler: Warnung vor doppelter Gefahr der Panikmache 

„Dass wir uns gesellschaftlich, lokal und global in einem Krisencluster befinden, ist ein Faktum“, verwies Bischof Hermann, der zum Gedankenaustausch in die theologische Fakultät der Universität Innsbruck lud, auf die wirtschaftlichen und psychosozialen Folgen der Pandemie, auf Teuerungswellen, Pflegenotstand, Fachkräftemangel, Inflation, die Klimakrise und den „unsäglichen Dämon des Krieges“, der derzeit nicht nur in Europa wütet. Er warnte eindringlich vor der doppelten Gefahr der Panikmache auf der einen Seite und der Verharmlosung von Krisenphänomenen auf der anderen Seite. „Es ist offensichtlich, dass wir es uns nicht mehr leisten können, nur in den Boxen abgeschlossener Disziplinen und Kompetenzbereiche zu verweilen. Die Dringlichkeit und Dimension der aktuellen Problemfelder zwingen uns zu einer neuen, beherzten Kooperation“, so Glettler über den Auftrag von Kirche, Menschen zusammenzuführen und miteinander über notwendige neue Wege nachzudenken.  

Fotos: Cincelli/dibk.at
Sozialphilosoph und Literat Egon Christian Leitner: Anregung zu Unterrichtsfach „Helfen“

Als Schrittmacher begleitete der Sozialphilosoph und Literat Egon Christian Leitner die Veranstaltung, der mit seinen Sozialstaatsromanen lange schon zu einem sofortigen verantwortungsvollen Tun auffordert. In seinen Ausführungen plädierte er für die Wiederholung des Sozialstaatsvolksbegehrens aus dem Jahr 2002: „Das Sozialstaatsvolksbegehren halte ich tatsächlich für dringlich, unverzichtbar und für den jetzt einzigen tatsächlich realisierbaren Ausweg. Das Sozialstaatsvolksbegehren zu wiederholen ist des öfteren versucht worden, z. B. zwischen 2008 und 2010, angesichts der Weltwirtschaftskrise infolge des Bankencrashs. Die Kooperation mit wichtigen Interessenverbänden kam jedoch nicht zustande.“ Vehement fragte Leitner: „Warum gibt es in der Schule kein Unterrichtsfach, das Helfen heißt, und warum im Fernsehen kein Friedensprogramm? Auf jedem Sender die Analysen, was man wo tun kann, und in jeder Schule Helfen als Pflichtfach.“ 

 

ORF-Mann Fritz Orter: Feinde müssen an den Verhandlungstisch 

Der langjährige Friedens- und Kriegsberichterstatter des ORF Fritz Orter wählte den Titel seines Vortrages passend zum Veranstaltungsort auf der theologischen Fakultät: „Kain, wo …“. „Wie ist nach Tod und Verletzung, Schmerz und Trauer, Hass und Rache ein neuer Friedensdialog überhaupt möglich?“ – ausgehend von dieser Frage berichtete Orter vom schwierigen Projekt Frieden nach Kriegen. „Der aktuelle Ukraine-Krieg erinnert uns an die bittere Erkenntnis der biblischen Überlieferung: Am Anfang war der Mord. Europa steht vor den Trümmern seines Friedensprojekts.“ Er setzt fort: „Wir haben gedacht, Frieden ist etwas Naturgegebenes. Das ist überhaupt nichts Naturgegebenes. Wir haben jetzt sieben Jahrzehnte im Frieden gelebt in Österreich, in Westeuropa. Wir haben ja schon vergessen, dass vor 30 Jahren Krieg am Balkan war. Aber ohne Frieden ist alles nichts. Auch die schönsten und besten Sozialprogramme sind wertlos. … Als Letztes stirbt die Hoffnung, wie es so schön heißt. Es muss versucht werden – weil alle Kriege einmal enden – die Feinde wieder an den Verhandlungstisch zu bringen, Feindbilder abzubauen, auf Versöhnung zu drängen. Aber Versöhnung ist nur möglich, wenn es eine gewisse Empathie auf beiden Seiten gibt. Es ist leicht, dass die Aggressoren in diesem Fall im Ukraine-Krieg sehr leicht auszumachen sind, aber eines Tages wird man mit denen auch verhandeln müssen, bevor Europa in eine bisher nicht gekannte Katastrophe stürzt.“ 

 

Falter-Herausgeber Armin Thurner: Für gerechte Medienförderung – gegen Sonderstatus von Sozialen Medien 

Falter-Herausgeber Armin Thurnher weckte in seinem Vortrag das Bewusstsein für das Problem der verlorengehenden Öffentlichkeit und die Auflösung des politmedialen Komplexes durch Entwicklung einer neuen Öffentlichkeit, die er als eine Art „libertären Technopaternalismus“ betitelte. Er zeichnete die damit einhergehenden Gefahren für die Demokratie und jeden Einzelnen nach: „Das Verwirrende an unserer Lage ist, dass wir alles gleichzeitig erleben, was uns einerseits die Möglichkeit gibt, zu glauben, das Gute werde schon die Balance zu seinen Gunsten entscheiden und alle können an einer demokratischen Weltgesellschaft dieser neuen Medien teilnehmen, aber gleichzeitig die dystopische Perspektive eröffnet: Da kann man eh nix machen, die Sache ist eh schon gelaufen.“ Thurnher sprach sich u. a. für gerechte Medienförderung aus und gegen den Sonderstatus von Sozialen Medien. Er forderte einen Medienunterricht an Schulen.  

Wirtschafts- und Sozialhistoriker Andreas Exenberger: Wohnen in Tirol das drängendste Thema

Wirtschafts- und Sozialhistoriker Andreas Exenberger berichtete von den Ergebnissen aus seinem Forschungsprojekt zum Thema „Armutsbetroffenheit in der Corona-Krise“. „Die Covid-Pandemie wirkte als Brennglas oder Brandbeschleuniger für alles, was bisher schon nicht gut gelaufen ist. Klassische Beispiele sind die Pflege, Bildung und Schule oder auch die Beschäftigung im Tourismus. Vieles ist noch nicht sichtbar. Arbeitslosigkeit konnte gut abgefedert werden, auch die höhere Nachfrage nach Sozialleistungen beginnt erst jetzt“, so Exenberger. Ausgehend von den Ergebnissen seiner Studie benennt er als logische Stoßrichtungen: Existenzsicherung werde zum Problem auch für den (unteren) Mittelstand, Arbeit müsse generell neu gedacht werden, Bildungsungleichheit sei ein sich verschärfendes Problem, Wohnen werde speziell in Tirol DAS drängendste Thema. „Niemand darf zurückgelassen werden!“, betont Exenberger. 

 

Markus Marterbauer, Arbeiterkammer: Inflation und Teuerung brauchen aktive Sozial- und Wirtschaftspolitik 

AK-Chefökonom Markus Marterbauer votierte in Folge angesichts der dramatischen ökonomischen Verschärfungen bzw. der steigenden Inflation und Teuerung für eine aktive Sozial- und Wirtschaftspolitik. Notwendig sei u. a. eine „markante Erhöhung von Arbeitslosengeld, Ausgleichszulage und Mindestsicherung. Höhere Mindestlöhne, bessere Arbeitsbedingungen und innovative Arbeitszeitverkürzung bilden den Ansatzpunkt auf dem Arbeitsmarkt. Bessere soziale Dienste, vom Ausbau der Kindergärten bis zur sozialen Pflege bestärken die Verängstigten.“ Auf diese Weise könne es gelingen, Österreich armutsfest zu machen.  

 

Sabine Platzer-Werlberger, AMS Tirol: Corona führte zu Verschiebung der Problemfelder 

Ähnlich plädierte auch die Landesgeschäftsführer-Stellvertreterin des AMS Tirol, Sabine Platzer-Werlberger, für eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes. Zwar sei das Arbeitslosenniveau auf den ersten Blick erstaunlich niedrig, doch hätte Corona zu einer Verschiebung der Problemfelder geführt. Nach wie vor drängend seien Langzeitarbeitslosigkeit, körperliche und psychische Erkrankungen und Unsicherheit und Existenzängste unter den Arbeitnehmern, so Platzer-Werlberger. Es gebe ein bewährtes und funktionierendes Set an Maßnahmen – etwa den Ausbau von Bildungs- bzw. Fortbildungsangeboten, stärkere Gesundheitsprävention und eine nachhaltige Existenzsicherung; dies müsse allerdings aktiv eingesetzt werden.  

Caritas Direktorin Elisabeth Ratgeb: Steigende Inflation ist sozialer Sprengstoff

Caritas Direktorin Elisabeth Ratgeb: Steigende Inflation ist sozialer Sprengstoff

Die Innsbrucker Caritasdirektorin Elisabeth Rathgeb betonte schließlich: "Die Voraussetzung für sozialen Frieden ist Gerechtigkeit. Hier ist die Schere zwischen Arm und Reich leider auch in Österreich in den letzten Jahren weit auseinandergegangen. Die steigende Inflation und Preissteigerungen bei Lebensmitteln, Strom und Gas treffen vor allem die unteren Einkommensschichten. Das ist sozialer Sprengstoff. Deshalb muss hier dringend massiv gegengesteuert werden." 

 

Sozialarbeiter-Ehepaar Windischer: Roma haben wenig, aber eine Seele  

Die InitiatorInnen zahlreicher Sozialprojekte in der Tiroler Landeshauptstadt, Jussuf und Vroni Windischer, berichteten von ihren Erlebnissen als Friedensbeobachter in Israel/Palästina und über die Situation von Roma und Sinti: „Roma haben wenig: weder Staat, noch Arbeit, sind nicht einmal wirtschaftlich ausbeutbar, haben aber eine Seele.“ Jussuf Windischer erzählte von seiner Begegnung mit einem Roma-20er-Zeitungsverkäufer, der meinte, „positiv denken: Wo viel geweint wird, muss umso mehr getanzt werden. Ich tanze mit“, so Windischer. 

 

Fünf Wege als Handlungsmaxime 

Auch inmitten von Krisen gilt: Wer kompetent neue Wege sucht, der wird sie finden. Darüber waren sich Mitwirkende und TeilnehmerInnen der Tagung jedenfalls einig. Der Sozialethiker Lothar Müller fasste das Gesagte am Ende in fünf Wegen zusammen, die es „mutig und innovativ“ zu beschreiten gelte: Priorität haben immer die Schwächsten. Erfolg gibt es nur durch Bündnisse und Kooperationen. Der Friedensdialog muss sofort und auf allen Ebenen beginnen. Es braucht Glaubwürdigkeit und Innovation im Kampf gegen den Klimawandel und „Trotz allem“: Freude, Humor und Mut machen uns unschlagbar. 

 

Vizerektorin Ulrike Tanzer nahm in ihren Grußworten Bezug auf den historischen Hintergrund des Veranstaltungsortes, einen der schönsten Räume der Universität Innsbruck, benannt nach dem Universitätsgründer Kaiser Leopold und betonte die zentrale Rolle von Universitäten bei der Bewältigung von Krisensituationen.

Gruppenfoto: Baittrok