Gott in Rufweite

Zum Nachlesen: Die Predigt von Bischof Manfred Scheuer zum Christtag 2012 im Wortlaut.

Zum Nachlesen: Die Predigt von Bischof Manfred Scheuer zum Christtag 2012 im Wortlaut: 

 

„Reich und schön? Nein, das bin ich nicht. Ich bin der Falsche, falls dir das wichtig ist. Ich habe nur mein Herz und meine Ehrlichkeit. Und es tut mir leid, weil es für mehr nicht reicht. … Deine Liebe war nur ein großer Scherz. Und wegen ihr wurde ich zum Jungen ohne Herz.“ Aus diesem Rap hat mir ein jugendlicher Häftling vor einigen Tagen im „Ziegelstadl“ vorgespielt, weil das sein Lebensgefühl ausdrückt. Ein Adventslied der anderen Art, das Sehnsüchte, Verletzungen, Enttäuschungen und auch Hass ausdrückt. Vermutlich ist das für gar nicht so wenige so, auch wenn nicht alle im Gefängnis oder in der Psychiatrie landen.

Knocking on heavens door
„Knock, knock, knocking on heavens door!“ So heißt es in einem Lied von Bob Dylan. Ich habe dieses Lied einmal bei meiner Tour am Heiligen Abend in einer Notschlafstelle für Drogenabhängige gesungen. Einer hat die Gitarre genommen und dieses Lied als sein Weihnachtslied ausgesucht. Die Sehnsucht klopft an die Himmelstür, sie pocht an das Tor des Glücks, des Friedens und des Heils. Es sind Anklänge an das Lied: O Heiland reiß die Himmel auf… – Weihnachten, das Fest der Sehnsucht, die müde geworden ist, der enttäuschten Liebe und der nicht eingelösten Ideale? Wie sieht die Landschaft des süchtigen, abhängigen Weges aus? Alles Negative sollte eigentlich nicht zu unserem Leben gehören: Schmerz, Schlaflosigkeit, Angst, Leiden, Unberechenbares, Unerwartetes sehen wir als überflüssige Umwege, die wegorganisiert werden. Nur das Positive zählt, das Negative wird besiegt. Fortschritt zielt darauf ab, auch noch den letzten Rest von Angst und Anstrengung zu beseitigen. Es gibt die Total-Lösung und das Schlaraffenland. Alle großen und kleinen Träume der Menschheit sind jetzt und hier verwirklichen. Es bleiben Lücken: diese werden mit äußeren Mitteln gefüllt: mit Alkohol, mit Medikamenten oder Drogen, mit Arbeit. Dieser Weg von der großen Sehnsucht zur Sucht ist gewalttätig gegen sich und gegen andere. 

Den Schönsten, den Liebsten
„Jauchzet, frohlocket! auf, preiset die Tage, rühmet, was heute der Höchste getan! Lasset das Zagen, verbannet die Klagen, stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an!“ So singt der Chor zu Beginn des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach (BWV 248) Und weiter: „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn! Deine Wangen müssen heut viel schöner prangen, eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben! … Er ist auf Erden kommen arm.“ Schön ist Jesus im Weihnachtsoratorium von J.S. Bach schon, schön aber nicht reich, sondern arm. Und die Schönheit der Musik, der Räume, des Festes ist Nahrung für die Seele. Es ist aber keine glatte Schönheit, keine große Vergesslichkeit: „Vergesslichkeit, weil man wegblicken und weghören, überhaupt die Wahrnehmung auf einen reduzierten Gesichtswinkel schalten muss, um an der glatten Haut der Kultur Freude zu haben. Zwang, weil die Lebensinhalte allesamt auf Unterhaltungsergiebigkeit getestet werden.“ 

Sympathie und Herz
Es ist Gott selber, den es nicht im Himmel hält. Wenn wir Jesus in der Krippe sehen, wenn wir dieses Kind feiern, dann feiern wir Gott, Gott ganz unten, Gott ganz nah, Gott in Rufweite, Gott in unserer Haut, mit unseren Schmerzen, mit unseren Freuden. Mit der Geburt Jesu tritt Gott in ein lebendiges Beziehungsgeschehen mit uns, er zeigt Herz, Sympathie und Solidarität mit uns. Bethlehem kommt heraus, wenn Gott und Mensch aufeinander treffen, wenn Gott die Not und die Abgründe der Menschen wahrnimmt. „Die Religion des Gottes, der Mensch wurde, ist der Religion (denn sie ist es) des Menschen begegnet, der sich zum Gott macht. Was ist geschehen? Ein Zusammenstoß, ein Kampf, ein Anathem? Es hätte sein können, aber es ist nicht geschehen. Die alte Geschichte vom Samariter wurde zum Beispiel für die Geisteshaltung des Konzils. Eine ganz große Sympathie hat es ganz und gar durchdrungen.“ (Paul VI.) – Was geschieht, wenn alt und jung aufeinander treffen: ein Crash oder gar ein Krieg zwischen den Generationen? Was passiert, wenn arm und reich aufeinander prallen: die große Absicherung und Abschottung der Reichen, der Kampf aller gegen alle? Was ist das Ergebnis der einen Welt von Nord und Süd: die Ausbeutung und Unterdrückung, der große Hunger? – Es gehört zur Menschwerdung Gottes und zur Menschwerdung des Menschen, dass „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi sind. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ (GS 1) Entscheidend für Menschwerdung ist es, dass bei uns ein Resonanzraum für das Wort Gottes offen ist. Es ist eine große Sympathie, welche die große Grundhaltung der Menschwerdung Gottes darstellt. „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt. …Durch Christus und in Christus also wird das Rätsel von Schmerz und Tod hell, das außerhalb seines Evangeliums uns überwältigt.“ (GS 22) Die Beziehung zu Gott verlangt wie jede Beziehung auch meine „Sympathie", mein Herz. Sie führt mich heraus aus der Isolation und stellt mich hinein in ein lebendiges Beziehungsgeschehen. Weihnachten sagt: Du kannst ihm trauen mit deiner Einsamkeit. Du kannst ihm trauen mit deinem Versagen. Du kannst ihm trauen mit deiner Todesfurcht. 

Ist Raum in uns?
Wir finden uns heute wieder in Maria, der das Gott-Kind anvertraut wurde. Mit ihr dürfen wir lernen, seine Nähe wahrzunehmen, ihn aufzunehmen, ihm Mutter und Schwester zu sein. Lernen, ihn frei zu lassen, zu achten, weil er der Ganz-Andere ist. Ihn zu entdecken im Arm eines alten Simeon. Das Leben um uns herum wachsen und strömen zu lassen, hier neben uns, an unsrer Seite. Wir wollen es anschauen, sehen, im Herzen bewahren, herbeisehnen, für uns und für die anderen, klein und groß. 

Manfred Scheuer, Bischof von Innsbruck

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