Geistvoll einmütig - wie geht das?

Predigt von Bischof Hermann Glettler beim Radiogottesdienst am 24. Mai 2020 – mitgestaltet von Politiker/innen der Innsbrucker Stadtregierung.

Einmütigkeit. In den großen Jubiläen dieser Tage der rote Faden. 75 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges. Mit einer bewegenden politischen Einmütigkeit wurde noch vor dem Kriegsende die Zweite Republik gegründet – über Parteigrenzen hinweg. Ebenso einmütig war unsere Großelterngeneration am Werk, die aus dem Bombenschutt heraus und trotz der geistigen Verwüstungen der Nazi-Zeit mit dem Wiederaufbau unseres Landes begonnen hat. 10 Jahre später gelang mit ähnlicher Einmütigkeit der Durchbruch zur Befreiung Österreichs von den alliierten Mächten. Im Hintergrund wurde auch viel gebetet. Und 1995 – der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Ohne Einmütigkeit wäre dieses größte Friedens- und Zivilisationsprojekt nie zustande gekommen. Und heute? Was heißt Einmütigkeit? 

Einmütigkeit als Geschenk und Auftrag 

Von den Aposteln wird uns berichtet, dass sie vom Ölberg wieder zurück in das Obergemach gingen und sich dort ständig aufhielten. Alle elf werden mit Namen genannt und auch Maria, die Mutter Jesu. Genau den Weg, der sie vom Letzten Abendmahl mit Jesus hinaus geführt hat – zur großen Enttäuschung, zu ihrem Versagen und zur Hinrichtung ihres Meisters. Jetzt retour! „Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und den Brüdern Jesu“. Amtsträger und Laien, ganz selbstverständlich das eine Volk Gottes. Sie blieben zusammen, stürzten sich nicht in blinde Aktivität – nein, sie hielten inne am Ausgangspunkt ihrer Enttäuschung. Diese einmütig versammelte Urkirche ist bestimmt ein idealisiertes Bild – nicht um uns zu täuschen, sondern um uns zu ermutigen: Konflikte gab und gibt es immer – aber auch das Wunder der Einmütigkeit! Verängstigte und Hochmotivierte, Vernachlässigte und Übersättigte, Fromme und Zweifler. Sie bleiben zusammen. Das wird zum Geschenk.

Vielleicht war es die Ungewissheit, die sie zusammen schmiedete, das Gefühl, einander wirklich zu brauchen. Ähnliches haben wir in der Akutphase der Krise erlebt. Nie zuvor haben wir so eine intensive Zusammengehörigkeit verspürt – getragen von einem Geist der Wertschätzung und Solidarität für jeden, noch so kleinen Beitrag zum Wohl aller. Ist das jetzt alles wie weggeblasen? Die urkirchliche Gemeinschaft war einmütig im Gebet. Sie fielen nicht mit Konzepten für eine längst fällige Normalisierung übereinander her. Sie suchten auch nicht krampfhaft nach Verfehlungen. Sie haben die ungewisse Situation gemeinsam ausgehalten. Bräuchten wir nicht gerade in den Phasen der hitzigsten Auseinandersetzungen einen Moment des Innehaltens? Wissend, dass niemand für sich beanspruchen kann, die perfekte Lösung zu haben. In einer Anrufung vom Pfingsthymnus „Veni Sancte Spiritus“ heißt es: „In der Unrast schenkst Du Ruh, hauchst in Hitze Kühlung zu.“

Mundschutz für eine geistvolle Kommunikation 

Jeder hat seine bestimmten Orte, wo es heiß zugeht – Büro, Firma, im Verkauf, im Wohnzimmer mit Partner oder Kindern, oder auch in der Küche. „If you can´t stand the heat, get out of the kitchen.“ Übersetzt: Wer die Hitze nicht verträgt, soll die Küche verlassen. Dieses Diktum wird dem US-Präsidenten Harry Truman zugeschrieben. Klar, dass wir uns mit diesem Zitat nicht über die Hitze unterhalten, die beim Kochen entsteht. Es geht um die überhitzten Auseinandersetzungen – im politischen Betrieb und in der öffentlichen Debatte. Viele Wortgefechte sind verletzend hart geworden, übertrieben aufgekocht, anklagend und gnadenlos. Haben wir denn nicht eine heilsame Einmütigkeit in der Akutphase der Corona-Pandemie erlebt? Jetzt aber sind wir in der Phase der Verteilungskämpfe und Neiddebatten. Fehler in der Kommunikation werden in politisches Kleingeld gemünzt. Die alte Normalität scheint uns vollends eingeholt zu haben, das Geschenk der Einmütigkeit extrem gefährdet. 

Ja, selbstverständlich braucht eine lebendige Demokratie Rede und Gegenrede, Kritik und Kontrolle, aber: welchen Mehrwert hat eine Dauerempörung und verbissene Fehlersuche? Bräuchten wir nicht eine „menschliche Fehlerkultur“ – ein Cool-Down, wenn jemand Fehler und persönliches Versagen eingesteht. Das macht uns doch menschlicher. Dafür sollte es Respekt und Anerkennung geben. Hyänen schaffen das nicht. Ist es wirklich aufgrund einer eigenartigen Politräson so zwingend, im Vorschlag des Anderen reflexartig die Schwachstelle zu suchen und damit den konstruktiven Anteil darin zu verwerfen oder sogar der Lächerlichkeit preiszugeben? Bräuchten wir nicht alle – mehr Heiligen Geist zum Hinhören und zum Dialog und präventiv oft sogar einen Mundschutz, um unnötige Infektionen mit dem Virus der Miesmache und Anklage zu vermeiden? Einmütigkeit ist keine Meinungsuniformität. Sie meint vielmehr eine geistvolle Suche nach dem, was aufbaut und verbindet. Einmütigkeit hat immer das gemeinsame Ziel vor Augen und nicht nur die eigenen Interessen. Einmütigkeit ist der Mut zur Einheit, die nicht vereinnahmt.

Bitte um den Geist der Einmütigkeit 

In der zweiten Lesung haben wir gehört, dass es ehrenhaft sei, für Gutes zu leiden. Wer jemals in irgendeinem Bereich Verantwortung übernommen hat, kann dies bestätigen. Für das Gute, für jede Art von Entwicklung und Erneuerung in Kirche und Gesellschaft ist Herzblut, Einsatz und auch Leiden unumgänglich. Die Applausbilder verschwinden allzu rasch, wenn es um wirkliche Veränderung geht. Die Erinnerung an die heilsame Verbundenheit in der ersten Phase der Corona-Krise kann eine Hilfe sein, nicht aufzugeben. Außerdem macht es mehr Freude, den Blick auf das keimhaft Gute zu lenken, das überall zu sehen ist. Wir müssen nur „im Zusammenbleiben“ etwas genauer hinsehen. Bitten wir jetzt – vorpfingstlich – um den Heiligen Geist, der uns dazu befähigt. Er hilft uns, ein neues Miteinander zu stärken. Voraussetzung ist ein innerliches Neuwerden, ein Umdenken und eine Bekehrung des Herzens. Einmütigkeit in einer pluralen Gesellschaft ist ein Meisterwerk des Heiligen Geistes. Er hilft uns, die Vielfalt von Meinungen und Perspektiven wertzuschätzen und in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen.

Wie kann das nachhaltig gelingen? Das Evangelium lädt uns heute zu einem neuen, leidenschaftlichen Beten ein. Das Gebet – herzhaft, nicht frömmelnd, weltnah und auf den Ursprung von allem ausgerichtet – befreit von der oberflächlichen Suche nach raschen Erfolgen, nach Ansehen und Profit. Gebet führt in die Tiefe. Es baut uns Menschen innerlich auf, weil es uns mit Gott verbindet. Im heutigen Evangelium betet Jesus in ganz leidenschaftlicher Weise, fast ekstatisch. Immer wieder kreist er um die tiefste und schönste Erkenntnis, nämlich ihn selbst als die offene Mitteilung und das offene Herz Gottes zu erkennen. Er betet, dass alle Menschen Gott erkennen und damit zu einer neuen Einheit finden mögen. Das Gebet Jesu ist ein mystisches Ringen um das letzte Glück von uns allen, das ewige Leben. Jesus betet und nimmt uns durch sein Gebet mit hinein in die Beziehung zu seinem himmlischen Vater. Dort und nur dort ist die erfrischende, immer neue Quelle von Einmütigkeit.