10 Gebote zur spirituellen Energie Vorsorge

Wortlaut der Silvesterpredigt von Bischof Hermann Glettler beim Gottesdienst zum Jahreswechsel 2022-2023 im Innsbrucker Dom.

Einleitung: Zum österreichischen Unwort des Jahres wurde „Energiekrise“ gewählt. Der russische Angriffskrieg in der Mitte Europas hat Folgewirkungen, die noch nicht abzuschätzen sind. Vor allem ist es die schwer angegriffene Infrastruktur und Energieversorgung, die der ukrainischen Bevölkerung am meisten zusetzt. Im Vergleich relativieren sich die Sorgen über Inflation und steigende Lebenserhaltungskosten in unserem Land. Aber sie treffen dennoch einige sehr hart. Energie ist zum Preistreiber geworden. Und die längst fällige Entwicklung alternativer, nachhaltiger Energie hat durch die Katastrophe des Ukrainekrieges eine neue Dringlichkeit bekommen. Ausgehend von der Energiedebatte, formuliere ich zum Jahreswechsel „10 Gebote“ – analog zum jüdischen Dekalog. 

1 Du sollst an Gott, den Ursprung aller Lebensenergie glauben und in den Energiesparmodus der Dankbarkeit kommen 

Eine steile Ansage, zugegeben. Anders formuliert: Das Leben ist ein Geschenk, wunderschön und begrenzt zugleich. Dieses erste Gebot könnte auch so lauten: Du sollst nicht glauben, dass Energie für den Betrieb einer Hochleistungs-Wohlstandsgesellschaft immer uneingeschränkt zur Verfügung steht. Dankbarkeit ist angesagt, täglich, nicht zuletzt auch Gott gegenüber, dem tragenden Grund unseres Daseins! Sie heilt und bewahrt vor Erschöpfung. Das erste Gebot lautet in der verheißungsvollen Proklamation Jesu: „Kommt alle zu mir, die ihr ausgepowert und erschöpft seid.“  

2 Du sollst keine „negativen Energien“ entwickeln, fördern und verbreiten 

Leicht gesagt. In einer Zeit, in der uns der Strudel negativer Ereignisse und deren mediale Verbreitung oftmals mitreißen. Wie ist es möglich, die Dynamik aggressiver Kommunikation zu unterbrechen – nicht auf Gewalt, sondern auf Verständigung zu setzen? "Noch mehr Waffen sind der schnellste Weg zum Frieden!" Diese unheimliche Parole gilt offensichtlich nicht nur als Paradigma für das große Kriegsgeschehen. Auch die vielen alltäglichen Kleinkriege treiben in immer größeres Aufrüsten, Anklagen und Dreinschlagen. Wie dringlich ist eine Logik der Versöhnung! Abrüstung jetzt!

3 Du sollst mit deinem persönlichen Energiehaushalt sorgfältig umgehen und Zeiten der Regeneration wählen 

Unbestritten wichtig ist eine gute Selbstfürsorge – auf die eigenen Bedürfnisse achten, heilsame Unterbrechungen wählen, den Rhythmus der Tage respektieren und den Sonntag heiligen. Altes Rezept, aber aktueller denn je. Wie sonst können wir dem Getriebe einer unersättlichen Gier nach Immer-Mehr entgehen? Zufriedenheit lässt sich nicht verordnen, aber einüben. Größere Lebensqualität durch den Verzicht auf übertriebene Ansprüche und eine spirituelle Regeneration. Durch ein wirkmächtiges Gebet (Jak 5,16), Stille und Gottesdienst erschließt sich eine innere Quelle. 

4 Du sollst darauf achten, dass Dein Energieverbrauch maßvoll und enkeltauglich ist 

Ein starker moralischer Appell. "Wir, die Ausbeuter" – diese Überschrift einer jüngst erschienen Glosse hat mich aufgeschreckt. Auch wenn die Last einer systemischen Veränderung nicht dem Individuum aufgelastet werden kann, beginnen dennoch alle großen Change-Prozesse mit einer persönlichen Veränderungsbereitschaft. Weniger Energie zu verbrauchen, ist die beste Energievorsorge! Keinesfalls dürfen wir die Natur und unsere Mitwelt in eine finale Erschöpfung treiben. Wir haften für unseren Lebensstil. Die zukünftigen Generationen werden uns dazu befragen.

5 Du sollst die sozialen Energie-Blackouts auf lokaler und globaler Ebene vermeiden helfen  

Im Zillertal hat vor einigen Tagen ein Marderbiss in ein Stromkabel 250 Haushalte lahmgelegt. Im Vergleich zu den möglichen Energie- und Versorgungsausfällen großer Unternehmen, Gesundheitseinrichtungen und Staaten ist dieser Mini-Blackout nicht der Rede wert. Mindestens so gefährlich sind soziale Blackouts – sie sind nicht nur durch staatliche Sozialleistungen vermeidbar. Es braucht Menschen, die hinschauen, zuhören und eine soziale Kreativität entwickeln. Die pfingstliche Windenergie, die dafür notwendig ist, wirkt in allen Initiativen, die Menschen zusammenbringen – ob kirchlich oder nicht. Um sie zu gewinnen, sind keine sündteuren Windräder notwendig, sondern nur das Verlassen der zu engen Räume exklusiver Selbstbesorgtheit. Der Heilige Geist weht immer.

6 Du sollst die Energie von Beziehung, Familie und Gemeinschaft wertschätzen und erhalten
Wir wissen um die innere Kraft liebevoller Beziehungen. Vieles, auch scheinbar Unmögliches wird möglich, wenn menschliche Verbundenheit vorhanden ist. Vielleicht beginnt es damit, dass wir die eigene Liebes- und Hilfsbedürftigkeit anerkennen. Wir brauchen uns gegenseitig – sind einander Geschenk und Last zugleich. In Beziehungen zu investieren, ist das beste Energie-Investment für die Zukunft. Persönliche und familiäre Netzwerke sind die beste Zukunftsvorsorge. Paradoxerweise gehört dazu oft ein Loslassen der eigenen Wunschvorstellungen. Nicht die perfekten Konzepte sind die Lösung, sondern ein geschwisterliches Teilen von Freude und Leid. 

7 Du sollst deinem Nächsten und dem sozialen Haushalt nicht unnötig Energie rauben 

Jeder von uns kennt Menschen, die enorm viel Energie absaugen. Manchmal zählen wir auch selbst zu diesen, nicht gerade sozialen Energie-Vampiren. Dieser psychisch belastende Energiediebstahl findet oft lange Zeit unbemerkt statt. Ein bewusstes Stopp-Signal kann notwendig sein. Vor allem dürfen wir einander nicht die Lebensfreude vermiesen. Ermutigung ist angesagt. Als Getaufte und Gefirmte sind wir doch mit dem Öl der Freude gesalbt - wenn es reaktiviert wird, schützt es vor Missmut, Misstrauen und allem möglichen Jammergehabe. Freude ist die stärkste Motivationskraft, echte Zukunftsenergie. Das biblische Motto: „Die Freude am Herrn ist unsere Stärke!“ (Neh 8,10)

8 Du sollst dich nicht durch falsche Versprechen und Energie-Lügen blenden lassen 

Es ist erbärmlich, wie unentschlossen die letzte Klimakonferenz in Ägypten zu Ende ging. Jämmerliches Blendwerk. Aber warum mit dem Finger auf die großen Versager zeigen? Wer von uns hat die innere Kraft für einen Weg der Zuversicht – ohne dabei Probleme gleichgültig zu verdrängen oder in einen apokalyptischen Alarmismus zu verfallen? Dieser Weg inmitten vieler Spannungsfelder unserer nervösen Zeit braucht eine große Portion Herzensenergie. Sie wird nach Auskunft des Neuen Testaments (u.a. Gal 5,6) allen geschenkt, die sich in das Wirkungsfeld Gottes begeben, in die Gemeinschaft mit ihm eintauchen. Gerade wenn wir uns sehr ohnmächtig fühlen, ist dies nötig. 

9 Du sollst die Pipelines von Erfahrungsaustausch, Dialog und Wertschätzung sichern 

Sehr schnell können scheinbar verlässliche Kommunikationswege torpediert werden, manchmal reicht dazu eine minimale Kränkung. Anstelle von Dialog und ernsthaftem Austausch tritt dann die vernichtende Ausgrenzung Andersdenkender. Meist sind es ideologische Vorentscheidungen, die ein gemeinsames Ringen um gute Entscheidungen verhindern. Im Gegensatz dazu wird der Energiefluss menschlicher Kommunikation von vielen kleinen Zeichen und Gesten belebt. Mit ihnen wird ein besseres gegenseitiges Verstehen, „Einfühlung“ (Edith Stein) und Wertschätzung versucht. Gottes Energie ist die stärkste Kraft, um niemanden zu übersehen oder auf die Verliererstraße zu drängen.

10 Du sollst deine Energie für die Gestaltung einer gerechten und versöhnten Welt einsetzen 

Das ist der Auftrag Gottes. Wer sich auf dieses Abenteuer einmal eingelassen hat, wird bemerken, dass es einen Energie-Flow der Nächstenliebe gibt. Ich habe ihn in letzter Zeit oftmals erleben dürfen. Er zeigt sich in der sympathischen Hilfsbereitschaft vieler Vereine, Freiwilligen-Initiativen und Solidaritätsgruppen in unserem Land. Ebenso beeindruckend sind die humanen „Kraftwerke“ der Einsatz- und Blaulichtorganisationen, die ganz selbstverständlich ihren Dienst tun. Nicht zuletzt sind es unzählige Personen in Kultur, Politik, Zivilgesellschaft und Kirche, die sich mit Charisma, also geistgewirkter Energie und Professionalität für andere einsetzen.

Abschluss: Die spirituelle Energie-Vorsorge wird uns im Neuen Jahr mit diesen Geboten hoffentlich gelingen – im Vertrauen auf Gottes Vorsehung, der seine Sonnenenergie über Gute und Böse scheinen lässt – und frei nach dem Motto: „Rechnen Sie mit allem, vor allem auch mit dem Guten!“