Zivilcourage heute. Lernen von den Mutigen

Podiumsdiskussion: Verpflichtung zu größerer Sensibilität aufgrund von historischer Verantwortung

„Die aktuellen Auswüchse von Gewalt und Extremismus erfordern ein starkes zivilgesellschaftliches Engagement. Bürgerlicher Mut und die Bereitschaft zum Dialog sind gefragt.“ Darüber waren sich die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion, zu der Bischof Hermann Glettler am Freitag nach Innsbruck eingeladen hatte, einig. „85 Jahre nach dem Novemberpogrom nimmt das hässliche Geschwür des Antisemitismus in unserem Land wieder neue Dimensionen an“, zeigt sich der Innsbrucker Diözesanbischof über die Folgen des Hamas-Terrors besorgt. In seinem einleitenden Grußwort zur Veranstaltung sagte er: „Wir alle tragen eine historische Verantwortung, die uns zu größerer Sensibilität verpflichtet.“ Gerade der Blick auf die Widerstandsformen zur Zeit der Nazi-Diktatur ist ein deutlicher Appell zur Wachsamkeit und bedingt die Frage nach der für heute nötigen Zivilcourage. Mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt betonte Bischof Glettler einmal mehr die Notwendigkeit aktiver Friedensdiplomatie und den unbedingten Schutz der Zivilbevölkerung. „Eine überlebensnotwendige humanitäre Hilfeleistung für die Leidtragenden im Kriegsgebiet darf keinem Kriegskalkül geopfert werden.“ 

 

Zivilcourage rettete tausende jüdische Flüchtlinge in Rom  

Auf die sozialen Spannungsfelder und die Chancen, die sich durch den Generationenwechsel für eine qualitätsvolle Erinnerungsarbeit ergeben, ging Dominik Markl, Professor an der Universität Innsbruck und dem Päpstlichen Bibelinstitut in Rom ein. „Zivilcourage äußert sich in vielfältigen Formen“, so Dominik Markl mit Blick auf die 4300 jüdischen Flüchtlinge, die während der deutschen Besetzung Roms ab 1943 in kirchlichen Einrichtungen gerettet wurden.  

 

Die im Archiv des päpstlichen Bibelinstituts in Rom wiederentdeckte und von einem Forscherteam untersuchte Liste zeige, dass 100 Frauenorden und 55 Männerorden tausende Menschen vor den Nationalsozialisten versteckt und damit gerettet haben. Ca. 80 Prozent der Juden in Rom überlebten Dank des beispiellosen Mutes von Ordensangehörigen und der Zivilcourage vieler Familien. „Zivilcourage heißt hinschauen.“ Auch was die Aufarbeitung der Geschichte von Institutionen anlangt, könne diese nur von innen beginnen, hebt Markl die historische Forschung im Archiv der Bundespolizeidirektion in Innsbruck hervor. So zeige diese u. a., dass auch fünf Polizeibeamte als „Gerechte unter den Völkern“ in Yad Vashem geehrt werden.  

 

Gleichgültigkeit ist ein Verbrechen  

„Gerade in Österreich und Deutschland tragen wir eine besondere Verantwortung“, betonte der Vorsitzende des Zukunftsfonds Österreich, Herwig Hösele, die Notwendigkeit, Gleichgültigkeit zu bekämpfen und eine solidarische Zivilgesellschaft zu fördern. „Unsere Demokratie lebt davon, dass die Menschen diskutieren, für Standpunkte eintreten, die vielleicht nicht populär sind. Demokratie braucht Engagement. Wir brauchen nicht angepasste Menschen, sondern aktive Bürger.“ 

 

Menschen, die sich mit Zeitgeschichte auseinandersetzen, sind statistisch nachgewiesen sensibler für Demokratiefragen und für Fragen der Menschenrechte. Aus diesem Grund ist eine beharrliche Bildungsarbeit von der Elementarpädagogik bis hinauf zur Universität unabdingbar, ja durchaus erfolgsversprechend. Zeitgemäße Vermittlungsformate spielen dabei eine große Rolle. 

 

Den aktuellen Konflikt im Nahen Osten betreffend betonte Herwig Hösele, dass das „gesicherte Existenzrecht des Staates Israel unbestritten sein und jüdisches Leben in Österreich angstfrei möglich sein muss.“ 

 

Interesse von jungen Menschen entscheidend 

Dass das Interesse von jungen Menschen am Nationalsozialismus und Holocaust gegeben sei, berichtet der Historiker und Mitarbeiter von erinnern.at Christian Mathies über seine Arbeit in der historisch-politischen Bildung an Schulen. Dabei gelte es, auch das teils verschiedene Verständnis über den Begriff Zivilcourage zu berücksichtigen und zu diskutieren. „Man hat ein Gefühl von Zivilcourage, aber es gibt letztlich immer unterschiedliche Wahrnehmungen. Zivilcourage kann eingreifen, sich wehren und sich einsetzen bedeuten. Im humanitären Bereich, wenn ich bspw. Leserbriefe schreibe oder für Asylsuchende die Stimme erhebe.“ Bei der Arbeit mit Zeitzeugenberichten gelte es, „die Kinder über die Emotionen zu erreichen und zu berühren. Man muss sich aber auch die strukturellen Rahmenbedingungen anschauen und das Ganze in den Kontext der Zeit bringen.“ 

 

Um Schülerinnen und Schüler für die aktuelle Konfliktsituation der Palästinenser und Juden zu sensibilisieren, sei es wichtig, nachvollziehbare Geschichten der Betroffenen zu erzählen und Begegnungen zu ermöglichen. 

 

Film „Grenz.Leben“ 

Berichte von Zeitzeugen, welche das Wissen und die Kraft zu einer qualitätsvollen Erinnerungskultur lebendig halten, gibt es kaum mehr. Ihre Schicksale und ihren Mut für heutige Generationen wachzuhalten, hat sich der Publizist Michael J. Mayr zum Ziel gesetzt. Die von ihm in den 1980er Jahren in Osttirol geführten Zeitzeugeninterviews mit Menschen, die jüdischen Flüchtlingen geholfen haben, hat er in seinem soeben erschienenen Film „Grenz.Leben“ dargestellt. Das eindrucksvoll Neuartige daran: Die Graphik Novel wurde mit KI-basierten Zeichenprogrammen erstellt. „Ich sehe mich mit meiner Arbeit auf den Schultern stehend von mutigen und rückgradigen Menschen. Ich wollte Vergangenes in die Zukunft tragen und vor allem junge Menschen mit der heutigen Ästhetik abholen“, erklärte Michael J. Mayr. „Wir haben jeden Tag genug Gelegenheit, mutig für Humanismus und Demokratie einzustehen. Jede Gewaltanwendung ist eine zu viel.“ 

Michael J. Mayr, Bischof Hermann Glettler, Gisella Schiestl, Herwig Hösele, Christian Mathies, Christine Brugger und Dominik Markl (v. l. n. r.) – Foto: Mayr