„Wir wünschen uns, normal behandelt zu werden!“

Betroffene Mütter sprechen bei Ethikforum in Innsbruck im Rahmen der "Woche für das Leben" über den Umgang mit Menschen mit Behinderung.

Rund 70 Menschen waren beim Ethikforum im Haus der Begegnung am Vorabend des „Tag des Lebens“ in Innsbruck dabei, als über den Umgang von Kirche, Politik und Gesellschaft mit Menschen mit Behinderung gesprochen wurde. Zu Wort kamen Eltern – hauptsächlich Mütter – von Kindern mit Behinderung, sie waren die Expertinnen zu diesem Thema.

 

Bischof Glettler: Ein Credo muss Inklusion sein 

In seinen Grußworten hob Bischof Hermann Glettler die Bedeutung vom „Tag des Lebens“ verbunden mit einer Botschaft hervor: „Jeder Mensch ist in jeder Phase seines Lebens kostbar und einzigartig.“ Heuer ginge es darum, das Bewusstsein zu schaffen für die Situation von Angehörigen, die ein behindertes Kind pflegen. Wichtig sei, auf ihre Herausforderungen aufmerksam zu machen und ihnen ein Mitspracherecht bei sie betreffenden Entscheidungen einzuräumen, betonte der Bischof. Kritisch äußerte er sich gegenüber der gesetzlichen Regelung, dass ein Kind bei Verdacht auf eine Behinderung bis zur Geburt abgetrieben werden kann. „Das ist eine Selektion von scheinbar lebensunwürdigem Leben, die dem Anspruch einer humanen Gesellschaft nicht gerecht wird“, so Bischof Glettler, der von zahlreichen Gesprächen von Eltern erzählt, die aufgrund einer einschlägigen Diagnose zu einem Spätabbruch ihres Kindes regelrecht gedrängt wurden. „Das Humanverhalten einer Gesellschaft erkennt man am Umgang mit den Schwächsten. Ein Credo muss Inklusion sein!“ so der Appell von Glettler. Es müsse in den Köpfen der Menschen verankert werden, dass Inklusion ein Menschenrecht ist. Es brauche eine inklusive Grundhaltung in allen Lebensbereichen. Explizit betonte der Bischof dabei den Bildungsbereich.

An die Verantwortlichen gerichtet, meint der Bischof: „Wir brauchen mehr qualitative, inklusive Betreuungsplätze, in allen Regionen.“

Lobend hob Glettler den neuen Lehrgang zur Begleitung und Pflege von Menschen mit Behinderungen am Ausbildungszentrum West für Gesundheitsberufe (AZW) hervor, der ab Oktober 2023 startet.

Abschließend richtete der Bischof seinen Dank an die Organisatoren des Ethikforums sowie ausdrücklich an alle Eltern und Familien, die sich für das Leben entschieden haben und ihre Kinder so hingebungsvoll pflegen. „Ihnen gebührt hohe Anerkennung!“

 

Betroffene orten noch viel Aufholbedarf beim Umgang mit Menschen mit Behinderung 

Es gibt in Österreich rund 80.000 Menschen, die ihr Kind mit Behinderung pflegen. Die Öffentlichkeit hat meist wenig Ahnung vom Alltag dieser Familien und von den emotionalen, mentalen, körperlichen und finanziellen Belastungen, mit denen sie zurechtkommen müssen. 

Diese Eltern übernehmen eine besondere Verantwortung für lange Zeit und die täglichen Herausforderungen können sehr belastend sein. Damit Eltern diese Aufgaben gut meistern können, ist es wichtig, dass sie von der Gesellschaft eine angemessene Unterstützung bekommen. Was ist belastend? Wo sind Stolpersteine? Was ist schwierig? 

Was ist gut? Hilfreich? Erfreulich? Was wünschen sich diese Familien? 

Am Podium ins Gespräch kamen die betroffenen Mütter Susanne Marini, Jasmina Memic, Maria Oberrauch, Ines Sax und Doris Unterberger sowie Astrid Hofmüller von Integration Tirol – Familienberatungsstelle.

 

Mütter äußern Sorgen, Nöte und Empfindungen 

In einer sehr offenen Atmosphäre sprachen die Betroffenen über Sorgen, Nöte, aber auch positiven Empfindungen:

„Mein Kind hat mir beigebracht, geduldig zu sein, andere Menschen besser zu verstehen und die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten“, so Jasmina, Mutter von Leon, frühkindlicher Autismus.
Maria, Mutter von Lorenz, Trisomie 21, sagt: „Unsere Sorgen, die wir uns anfangs gemacht haben, wurden von unserem Sohn weggezaubert.“
Ines, Mutter von drei Kindern, zwei davon haben eine Behinderung, ergänzt: „Wir als Familie wünschen uns, normal behandelt zu werden, denn unser Leben ist für uns normal.“ 

Doris, Mutter von drei Kindern, zwei davon haben eine Behinderung, macht sich zur gesamten Familie Gedanken: „Eine große Herausforderung ist es auch, auf das Geschwisterkind, das Kind ohne Behinderung, zu achten und es nicht zu vergessen.“  Und weiter: „Die Gemeinschaft der Kirche gibt mir Kraft, es sind nicht die Gottesdienste in der Kirche, weil die können wir als Familie nicht gemeinsam besuchen, sondern die Menschen, die diese Gemeinschaft bilden, die geben mir Kraft.“
Susanne fragt: „Warum ist das so, dass manchen von uns immer die Tränen kommen, wenn sie über ihre Kinder mit Behinderung sprechen? Wir stehen unter enormen Leidensdruck. Der Druck kommt hauptsächlich von der Gesellschaft.“ 

 

Vorurteile durch Begegnung und Gespräch abbauen
Nur mit Begegnung und im Gespräch können Vorurteile und Ängste abgebaut werden, so der gemeinsame Appell der Mütter. „Wir mussten lernen, damit umzugehen“, lautet der Tenor, wenn man mit Müttern, Vätern und Geschwistern spricht. Die Veranstaltung sollte anregen, dass auch die Gesellschaft lernt, mit den Kindern und später Erwachsenen mit Behinderung umzugehen. Und da orten die Diskutanten noch sehr viel Aufholbedarf.
Astrid Hofmüller von Integration Tirol, analysiert: „Im Umgang mit Menschen mit Behinderung müssen wir weg von den defizitorientierten Diagnosen hin zu einer bedarfsgerechten, individuellen Unterstützung!“
Landesrätin Eva Pawlata reagierte auf die Statements der Mütter spontan: „Ich werde mich dafür einsetzen, dass der Mangel an Ressourcen nicht von einem Mangel an politischem Willen herrührt. Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir vom Mangel zu den Möglichkeiten kommen.“ 

Volker Schönwiese – ehemaliger Professor für Inklusive Pädagogik und Disability Studies der Universität Innsbruck – beschloss den Abend mit den Worten: „Fachlich ist eigentlich alles geklärt, jetzt muss gehandelt werden!“

Den Tag und die Woche des Lebens würdigt die Diözese Innsbruck mit mehreren Veranstaltungen. Alle Aktionen zeigen, dass Menschwerden nicht geplant und Kinder nicht optimiert werden können. Diesen Tag zu feiern, zeigt auf, dass Liebe an keine Bedingung geknüpft und Glück nicht gleichbedeutend mit Gesundheit sind. 

Betroffene Mütter im Austausch beim Innsbrucker Ethikforum. Foto: Tscherner/dibk.at