Was ist los auf Lesbos? Wie kann man helfen?

Eine Orientierungshilfe zum Flüchtlingselend auf Lesbos von Bischof Hermann Glettler.

Das Flüchtlingselend auf der Insel Lesbos lässt niemanden kalt. Die Antworten auf die erschreckenden Bilder und erschütternden Berichte sind eine enorme Hilfsbereitschaft sowie eine Welle der Empathie und Empörung über dieses himmelschreiende Elend. Es gibt aber auch Stimmen, die vor Übertreibungen warnen und die restriktive Haltung der österreichischen Bundesregierung verteidigen. 

Anfang Dezember 2020 hat Innsbrucks Bischof Hermann Glettler mit einer kleinen Delegation das Flüchtlingslager auf Lesbos besucht und mittlerweile mehrmals in der Öffentlichkeit darauf hingewiesen, dass beides dringend notwendig ist: eine effektive Hilfe für die Menschen in den griechischen Lagern und zugleich eine umgehende Evakuierung des Lagers – so rasch wie möglich. 

Bischof Hermann Glettler versucht im Folgenden, häufig gestellte Fragen zu beantworten. Diese sollen all jenen Unterstützung bieten, die sich selbst politisch oder mit einer konkreten Hilfsmaßnahme engagieren möchten. Der Bischof ist bemüht, aus seiner Perspektive eine Orientierung zu geben. 

 

Stand Anfang März 2021 | Die Informationen werden laufend aktualisiert und ergänzt. 

1. Was ist die wirkliche Situation auf Lesbos?  

Die Bilder von den Flüchtlingslagern zeigen immer noch verheerende Verhältnisse, auch wenn man sich vor Ort bemüht, die Lage für die Betroffenen zu entschärfen. Ganz einfach: Das Notlager Kara Tepe II, in dem sich aktuell 7.500 Personen befinden, ist nicht für einen längeren Aufenthalt geeignet und entspricht nicht den internationalen Standards eines Flüchtlingscamps. Es ist nicht wetter- und schon gar nicht winterfest. Besonders bedrohlich sind die kalten Temperaturen in der Nacht und die kalten Stürme direkt am Meer – das alles mit einer Feuchtigkeit in den Zelten. Eine Wetterbesserung im Frühling und der Übergang zu heißen Temperaturen bringen zwar eine gewisse Entspannung, aber auch neue Herausforderungen. Zusätzlich zum Mangel in der Basisversorgung der Menschen und zur enormen psychischen Belastung treten wieder vermehrt Hautkrankheiten wie die Krätze auf. 

Kara Tepe II wurde nach dem Brand von Moria (der Name bezeichnet ein Gebiet auf der Insel, wo sich das erste große Lager befand) als Notlager gebaut. Mit welcher Absicht sollen Menschen in diesem Lager festgehalten werden? Nach jeder Katastrophe werden provisorische Lager so rasch wie möglich geräumt. Auf Lesbos ist das scheinbar anders. Notlager sind keine zumutbaren Orte für ein menschenwürdiges Leben. 

Und noch etwas: Mit Stand Mitte Februar 2021 sind ein Drittel der insgesamt 17.000 Geflüchteten auf Lesbos anerkannte Flüchtlinge mit einem gültigen internationalen Schutzstatus (Asyl oder subsidiärer Schutz). Knapp 2.500 Personen wurden von Griechenland in 11 europäische Länder umgesiedelt: Belgien, Bulgarien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Portugal und die Schweiz. Österreich hat sich an dieser Europäischen Rettungsaktion einer geordneten Aufnahme mit bisher 0 Personen beteiligt. Was spricht dagegen? 

Auch Italien hat sich bereit erklärt, in Zusammenarbeit mit der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio 300 Flüchtlinge aus Lesbos aufzunehmen. Solche Programme der humanitären Aufteilung und Aufnahme hat es in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben – durch Resettlement-Programme waren es Menschen von außerhalb Europas und durch Relocation-Programme eine Verteilung der bereits anerkannten Flüchtlinge innerhalb Europas. Auch Österreich hat sich unter der Innenministerin Johanna Mikl-Leitner an Ressetlement-Programmen beteiligt. Das Know-How von Behörden und Hilfsorganisationen ist also vorhanden – und die Zivilgesellschaft ist für eine Zusammenarbeit bereit und wünscht sich, endlich helfen zu dürfen. 

 

2. Reicht nicht die vielzitierte „Hilfe vor Ort“?

Die sogenannte „Hilfe vor Ort“ sollte nicht gegen eine Evakuierung des Lagers ausgespielt werden. Beides ist notwendig! Jede Hilfe vor Ort ist als Katastrophenhilfe zu sehen, um den Betroffenen das körperliche und psychische Überstehen der äußerst belastenden Extremsituation zu ermöglichen. Dass viele Kinder und Erwachsene nach den lebensgefährlichen Fluchtwegen und gefangen in der aktuellen Perspektivenlosigkeit an Traumatisierungen und psychischen Erkrankungen leiden, ist eine bittere Tatsache. Es sind auch mehrere NGOs im Lager tätig, die mit hohem Engagement – und teilweise auch (zum Großteil) mit Spendengeldern finanziert – die griechischen Behörden bei der Versorgung der Menschen unterstützen. Wenn nun auch SOS-Kinderdorf auf Lesbos aktiv wird, ist das ein Tropfen auf den heißen Stein –  wenngleich als ein wichtiges Signal sehr zu begrüßen. Dennoch kehren die Kinder nach der Tagesbetreuung wieder in den unvermeidbaren Schmutz der notdürftigen Unterkünfte zurück, wo sie die Not ihrer Eltern erleben. Etwa ein Drittel der Personen im Lager sind Kinder und Minderjährige! Ihre Lebensbedingungen entsprechen in einigen Belangen nicht der UN-Kinderrechtskonvention. Sie erleben täglich verzweifelte, kranke und hoffnungslose Eltern, die ihnen nicht den nötigen Schutz und die Sicherheit für eine gesunde Entwicklung bieten können. 

 

3. Es gibt so viel Elend auf der Welt. Warum sich nur um Lesbos kümmern? 

Bei dieser Frage schwingt die wichtige Sorge mit, ob sich nicht mit dem Verschwinden der öffentlichen Aufmerksamkeit (inkl. Social Medias) bald auch Empathie und Hilfsbereitschaft erschöpfen werden. Ja, diese Gefahr besteht. Dennoch ist es wichtig, bei einer Notlage, bei einer sozialen Wunde, die man wahrnimmt, dranzubleiben. Das viele Elend der Welt darf nicht zur gefährlichen Ausrede werden, nichts zu tun. Ja, wer Kraft und Energie hat, möge sich bitte mit gleicher Intensität für die Lager auf Samos, in Bosnien oder anderswo engagieren. Mutter Teresa war immer wieder mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert und dennoch hat sie an den vielen Orten der Verzweiflung mit ihrem konkreten Engagement eine Welle der Barmherzigkeit ausgelöst. 

Wer sich um einen Notleidenden kümmert, bringt die Welt zumindest an einem Ort ein wenig in Ordnung. Die Liebe fragt nicht nach den großen Erfolgen. Jeder von uns hat auch seine Nachbarschaft, wo er/sie zuerst gefragt ist. Und bitte nicht vergessen: Die kirchlichen Hilfswerke und Aktionen (Caritas, Diakonie, „Bruder und Schwester in Not“, SEI SO FREI, Sternsingeraktion, kfb, Missio, zahlreiche pfarrliche Partnerschaften zur Entwicklungszusammenarbeit, …) konzentrieren sich nicht auf Lesbos. Wir – und damit meine ich all diese Werke einer langfristigen, kompetenten kirchlichen Diakonie – bleiben unseren Partner/innen vor Ort in den unzähligen Projekten verlässlich als Unterstützer/innen erhalten. Nur ein Beispiel: Die Caritas der Diözese Innsbruck ist seit 45 Jahren in Burkina Faso engagiert und ganz konkret auch dort in der Unterstützung der Flüchtlingshilfe. Ebenso in Armenien, wo es aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen ebenfalls Flüchtlinge zu betreuen gilt.

 

4. Welche Rolle spielt Griechenland?  

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Zu beobachten ist eine große Nervosität der griechischen Behörden, weil offensichtlich in den vergangenen Jahren viel zu wenig für die Menschen in den Lagern getan wurde. Die EU zahlt immense Summen an Griechenland für die Aufnahme und Versorgung derer, die auf griechischem Territorium gestrandet sind. Die Katastrophe von Moria – der Brand Anfang September 2020 – hat sich über Jahre zusammengebraut. Man sprach nur mehr vom „Dschungel von Moria“. 22.000 Menschen haben auf einem ehemaligen Militärareal und in den Olivengärten gehaust: keine Müllentsorgung, keine ausreichende Hygiene und Essensversorgung, ungenügende medizinische Versorgung.

Das Flüchtlingselend auf den griechischen Inseln ist außerdem nicht vor kurzem entstanden, sondern dauert mittlerweile viele Jahre. Anfangs, also in den Jahren 2014/12015 war das Entgegenkommen der einheimischen Bevölkerung sehr groß. Dann jedoch kippte die Stimmung, weil man sich von Europa im Stich gelassen gefühlt hat. Es wird auch berichtet, dass in Athen und anderen griechischen Städten die Obdachlosenzahl drastisch zunimmt. Dieses Faktum belegt, dass das griechische Sozialsystem dieser Herausforderung nicht gewachsen ist. Darüber hinaus ist der griechische Staat massiv mit der Pandemiebekämpfung beschäftigt und kann nicht auf ein gut ausgebautes Gesundheitsnetz zurückgreifen wie dies Österreich und in vielen anderen europäischen Ländern der Fall ist. 

 

5. Ist das Elend auf den griechischen Inseln ein Versagen der europäischen Asylpolitik? 

Ich bin leider kein Europa-Experte, aber als Laie muss ich dieser Frage zustimmen. Und das Urteil der Expert/innen ist diesbezüglich ohnehin einhellig. Das Notlager Kara Tepe II auf Lesbos ist trotz der Bemühungen, eine gewisse Infrastruktur nachzubauen, ist eine humanitäre und kulturelle Schande für Europa. Die entscheidende Frage lautet, welche politische Strategie Europa verfolgt. Will man an den Außengrenzen möglichst prekäre Situationen aufrechterhalten, um all jene abzuschrecken, die nachkommen wollen? Das wäre eine politische Taktik von erschütternder Unmenschlichkeit, ein kalkuliertes Spiel mit den tragischen Schicksalen unzähliger Menschen. 

Die zweite Frage ist noch wichtiger: Wann endlich gibt es eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik Europas, die von möglichst allen Mitgliedsstaaten mitgetragen wird und den humanitären Standards der Menschenrechtskonvention und europäischen Flüchtlingskonvention entspricht? Es wird in Zukunft sicher nicht gehen, dass die südlichen Staaten Europas mit der Last der Integration der nach Europa Geflüchteten größtenteils allein gelassen werden. Wir brauchen gerade angesichts der herausfordernden Flüchtlingsthematik mehr – und nicht weniger – Europa! Leider ist Europa seit einigen Jahren und in manchen Mitgliedsstaaten mit einem „Rechtsruck“ konfrontiert. Populistische Politiker glauben, ihren Stimmenzuwachs vor allem dadurch zu generieren, dass sie eine harte, letztlich inhumane Asylpolitik vorantreiben. Insgesamt ist die Genfer Konvention weiterzuentwickeln, gerade auch in Hinblick auf die Klimakrise, die noch wesentlich mehr Migrationsströme verursachen wird.

 

6. Woher kommen die Flüchtlinge, die sich auf Lesbos befinden? Was haben sie hinter sich? 

Viele haben lange, entsetzliche Fluchtwege hinter sich. Vor allem Familien sind betroffen. Eine große Anzahl sind Afghanen, die illegal im Iran gelebt haben, nachdem sie Afghanistan aufgrund lebensbedrohlicher Umstände bzw. des permanenten Kriegszustandes verlassen haben. Eine nicht unbeträchtliche Zahl sind afrikanische Flüchtlinge, hauptsächlich aus Somalia und Eritrea, die aufgrund der blockierten direkten Mittelmeerroute den Umweg über die Türkei wählen. Ich möchte zukünftig viel weniger von „den Flüchtlingen“ sprechen, sondern von Menschen, die dramatische Wege und Situationen hinter sich haben. Niemand ist mit einem Flugzeug auf die Insel gekommen. Menschen sind psychisch belastet, ihre Hoffnungen sind zerbrochen. Es wäre notwendig, dass sie nach all den Enttäuschungen wieder als Menschen geachtet werden.

 

7. Warum genau 100 Familien aufnehmen? Ist das nicht eine willkürliche Zahl? 

Die Zahl 100 ist natürlich eine mehr oder weniger willkürliche Festlegung. Mein Gedanke ist, dass diese Anzahl überschaubar ist, denn wir sprechen damit von einer Gruppe von ca. 400 Personen. Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass es möglich wäre, diese Familien in Österreich unterzubringen. Familien mit Babys und Kleinkindern zählen im Lager zu den vulnerabelsten Gruppen – ihre Versorgung mit Nahrung, Hygieneartikeln und Medikamenten ist bei weitem nicht ausreichend. Und sie befinden sich in den ca. 1.000 Familienzelten, die nicht wetterfest sind. Für Einzelpersonen wurden große Zelte gebaut, die durch die verwendeten Holzkojen einen wesentlich besseren Schutz bieten. 

 

8. Was kann die österreichische Regierung/Politik tun? Nehmen wir nicht ohnehin schon sehr viele Flüchtlinge auf? 

Es geht in der Forderung, Menschen in Not aus Lesbos aufzunehmen, nicht um die Frage, ob Österreich mehr oder weniger Flüchtlinge aufzunehmen hat. Ein humanitärer Notfall verlangt nach einer Notmaßnahme und nicht nach einer ermüdenden Flüchtlingsdebatte. Ja, Österreich ist im Vorjahr seiner Asylverpflichtung mit der Gewährung von Asyl für eine große Anzahl von Menschen nachgekommen. Im europäischen Vergleich liegt unser Staat damit auf den vorderen Rängen. Dieses Faktum ist positiv. Und rückblickend:

Österreich hat sowohl in der direkten Hilfe vor Ort als auch in der Aufnahme von schutzsuchenden Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten in den vergangenen Jahrzehnten Enormes geleistet. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren bspw. über eine Million Vertriebene im Land, 1956 flohen 180.000 Ungar/innen nach Österreich, 100.000e kamen aus der ehemaligen Tschechoslowakei und aus Polen und rund 90.000 aus dem zerfallenden Jugoslawien. 

Auch im Zuge der Flüchtlingswelle, ausgelöst durch den Arabischen Frühling, hat Österreich viele Notleidende aufgenommen und viel Hilfe vor Ort geleistet. Dafür bin ich außerordentlich dankbar. Gleichzeitig hoffe ich auf das Bemühen der politisch Verantwortlichen, diese österreichische Tradition der Hilfsbereitschaft und christlichen Nächstenliebe fortzusetzen und die Vorbildfunktion, die Österreich für viele andere Länder weltweit eingenommen hat, beizubehalten. Hilfe vor Ort ist notwendig, reicht aber alleine nicht aus. Es tut unserem Land und unserer politischen Kultur nicht gut, wenn „Justament-Standpunkte“ und ein „Drüberfahren“ immer mehr Platz vereinnahmen. Die Menschen auf Lesbos und in Österreich haben es verdient, dass das Thema pragmatisch, zeitgemäß und zeichenhaft gelöst wird.

 

9. Was ist, wenn immer mehr Flüchtlinge nachkommen? Ist der Pull-Effekt nicht gefährlich? 

Pull-Effekte lassen sich nie ganz ausschließen. Aber wesentlich gefährlicher sind die Push-Effekte, d. h. alles, was Menschen dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Dazu zählen alle Strukturen der Ungerechtigkeit, Krieg und Terror, Hunger, mangelnde Sicherheit und persönliche Verfolgung – und vor allem auch eine faktische Perspektivenlosigkeit. Zusammengefasst: Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen und nicht die Flüchtenden! Das ist der notwendige Perspektivenwechsel, um die Debatte über Pull- und Push-Faktoren auf eine andere Ebene zu heben. Man kann davon ausgehen, dass niemand aus Jux und Tollerei seine Heimat verlässt und die größten Gefahren in Kauf nimmt. Investitionen in entwicklungspolitische Agenden in den Herkunftsländern der Flüchtenden müssen zu einer Priorität europäischer Politik werden. Das kann man ganz eigennützig argumentieren, um die Folgekosten einer sich verstärkenden Fluchtbewegung einzudämmen, oder sich vom Begriff einer „globalen Geschwisterlichkeit“ inspirieren lassen, wie Papst Franziskus ihn eingebracht hat.  

 

10. Welchen Asyl-Status haben die Familien, die sich in den Flüchtlingslagern befinden und nach Österreich geholt werden sollen? 

Auf den griechischen Inseln werden selbstverständlich Asylverfahren durchgeführt. Die Lager haben offiziell die Bezeichnung RIC (Registration Identification Center). Zurzeit befinden sich mindestens 250 Familien im großen Lager, die bereits einen positiven Asylbescheid haben. Damit haben sie das Recht, sich auf europäischem Boden aufzuhalten. Griechenland ist jedoch mit der längerfristigen Versorgung dieser Personen überfordert.

Genau aus dieser Gruppe sollen die 100 Familien genommen werden. Mit dieser humanitären Notaufnahme könnte Österreich innerhalb Europas vorbildhaft wirken. Auch in Zukunft wird es diese Aufnahmelager an den Grenzen Europas geben müssen. Auf Lesbos wird ein stabiles Lager gebaut, das im September 2021 in Betrieb gehen soll – Fassungsvermögen 10.000 Personen. Aber was ist jetzt – wie lange sollen die Menschen im Lager warten? Es sollte – und so war es ursprünglich auch vorgesehen – ein Verteilungslager sein. Sprich: ordentliche Registrierung und dann Weiterleitung an andere Orte für faire Asylverfahren.

 

11. Was tut die Kirche? Fordert sie nur von der Politik und der Gesellschaft?  

In den vergangenen Jahrzehnten gab es einige große Fluchtbewegungen nach Österreich. Sie zeugen von großer Solidarität und Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Ohne die sozial-karitativen Aktivitäten der Kirche und kirchlichen Einrichtungen, v. a. der Caritas, wären die enormen Herausforderungen jedoch nicht zu bewältigen gewesen. Auch im Fall einer Aufnahme von 100 asylberechtigten Familien aus Lesbos in Österreich können über die kirchlichen Strukturen Quartiere und bestmögliche Unterstützung bei der Integration organisiert werden. Gerade die Caritas verfügt über eine jahrzehntelange Kompetenz im Flucht- und Integrationsbereich, leistet Notversorgung, gemeinwesenorientierte Startbegleitung, Sozialrechts- und Familienberatung, koordiniert Freiwilligenarbeit, bietet Bildungsangebote und Bewusstseinsarbeit. 

Unbedingt erforderlich ist aber auch die Bekämpfung von Fluchtursachen durch Schaffung von Lebensgrundlagen in klassischen Emigrationsländern sowie in der Nothilfe in Kriegs- und Krisengebieten und in überfüllten und teils menschenunwürdigen Flüchtlingsunterkünften (Griechenland, Bosnien …). Unzählige Wasser-, Ernährungs-, Landwirtschafts-, Gesundheits- und Bildungsprogramme der Caritasorganisationen, Ordenseinrichtungen und anderer kirchlicher Hilfswerke in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern sind notwendende Beiträge zur Bekämpfung von Not und Elend, die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zwingen.

 

12. Kann Integration längerfristig gelingen? Oder handeln wir uns mit mehr Zuzug nur noch mehr Probleme ein? 

Ich bin überzeugt, dass Integration einen Mehrwert für unser Land haben kann. Aktuell gibt es in allen Bundesländern zahlreiche Integrationsangebote in den Bereichen Spracherwerb, Bildung und Arbeit, Gesundheit und Soziales, Wohnen, Begegnung und Zusammenleben und bereichsübergreifenden Angebote.

Integration braucht jedoch Begleitung, Räume der Begegnung und die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Ich appelliere an die öffentliche Hand, den Ausbau von Integrationsprojekten weiterhin zu fördern und zu unterstützen. Vor allem braucht es die erneute Finanzierung von Sprachkursen. Sie sind ein wesentlicher Schlüssel, um in eine echte Zugehörigkeit zur aufnehmenden Gesellschaft zu kommen. Probleme/Herausforderungen wird es in vielfältiger Weise natürlich auch immer geben, doch es gibt unzählige Beispiele von gelungener Integration, von befruchtendem Miteinander, von dem leider in diesem Zusammenhang viel zu wenig gesprochen wird. 

 

13. Wie kann man nun konkret helfen? Wer ist mein Ansprechpartner? 

Die Bereitschaft zur ehrenamtlichen Unterstützung von Menschen auf der Flucht ist in unserem Land sehr groß. Allein die Caritas bietet seit vielen Jahren ein „Buddy-System“ mit bis zu 150 Freiwilligen. Außerdem organisiert die Caritas die Vernetzung von Freundeskreisen mit dem Ziel des Austauschs, der Informationsweitergabe, gegenseitigen Unterstützung und Interessenvertretung.

https://www.caritas-tirol.at/hilfe-angebote/fluechtlinge/freundeskreise-flucht-und-integration-netzwerk-tirol/ 

 

Integration ist ein wechselseitiger Prozess, bei dem alle Beteiligten Schritte aufeinander zugehen müssen, um ein gutes Zusammenleben von Menschen zu gewährleisten sowie ein Klima des gegenseitigen Respekts zu fördern. Konkret heißt dies Anstrengung für beide Seiten, Rechte und Verpflichtungen, Chancengerechtigkeit – für Einheimische wie Zugewanderte. 

Integrationsbegleiter/innen brauchen eine gute Einführung und professionelle Begleitung für dieses Engagement und eine Koordinierungsstelle. Wer sich ehrenamtlich engagieren möchte, kann sich bei folgenden Stellen melden:

Falls Wohnraum zur Verfügung gestellt werden kann: TSD oder Diakonie-Flüchtlingsdienst E-Mail: integration.tirol@diakonie.at

Durch Spenden können auch die vielen Projekte der Caritas im In- und Ausland unterstützt werden.

Darüber hinaus kann jede und jeder positive Bewusstseinsbildung leisten, gegen Ungerechtigkeiten aufstehen und damit einen Anstoß für eine verlässliche Politik geben, die in allen Bereichen der Menschlichkeit verpflichtet ist.

 

14. Was zeichnet eine christlich-soziale Politik aus? Steht nicht Verantwortungsethik gegen eine Gesinnungsethik? 

Eine christlich-soziale Politik zeichnet sich durch die Ermutigung zu einem persönlichen, engagierten Handeln aus. Sie muss die Hilfsbereitschaft, die in der Bevölkerung gegeben ist, fördern und steuern, darf sie aber keinesfalls unterbinden. Eine christlich-soziale Politik ist unter allen Umständen dem sozialen Zusammenhalt verpflichtet – das Wir ist größer als das Ich. Diese wünschenswerte Solidarität muss auch über den Tellerrand der Befindlichkeit einer Wohlstandsgesellschaft hinausreichen.

Ich empfinde die Gegenüberstellung von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik (Max Weber) nicht sehr hilfreich. Erstens meint Gesinnung die Haltung des Menschen und nicht nur eine oberflächliche Emotion. Und zweitens steckt in dem Wort Verantwortung – das Wort Antwort. Ja, darum geht es: Antwort zu geben auf immer neue Situationen, die uns herausfordern und als Menschen mit Weitblick in die Pflicht nehmen. Eine umfassende Verantwortungsethik wird nicht ohne eine starke Gesinnung auskommen. Eine solche zu ermöglichen, ist auch Aufgabe einer christlich-sozialen Politik. Sie zu diskreditieren als „Gefühlsduselei der Gutmenschen“, ist auf Dauer gefährlich. Eine permanente Absage an die große Hilfsbereitschaft in den Gemeinden, der Zivilgesellschaft wird auf Dauer zu einer Verkümmerung unserer Werte führen – und die vielen positiven Ansätze zur Entwicklung einer solidarischen und zukunftsorientierten Gemeinschaft nachhaltig stören. Das kann ernsthaft niemand wollen. Gehen wir deshalb möglichst unerschrocken, gewaltfrei und ohne Gehässigkeit, aber klar in der Sache unseren Weg weiter – in der Verbundenheit und Sorge um Menschen, die in unserem Land und auch anderswo unsere Hilfe brauchen.

Eine Chance: Humanitäre Korridore

Die katholische Gemeinschaft Sant' Egidio setzt sich seit Jahren dafür ein, dass humanitäre Korridore für Menschen auf der Flucht eingerichtet werden, die ihnen einen Ausweg aus dem Flüchtlingselend ermöglichen. Im Jänner begab sich eine Delegation der Gemeinschaft nach Griechenland, um den Flüchtlingen zu helfen und die nächsten humanitären Korridore nach Italien vorzubereiten. Die Lage der Flüchtlinge in diesem Winter ist sehr schwierig.

Neben den vier Hotspots auf den griechischen Inseln gibt es auf dem Festland bei Athen und an der Grenze zu Mazedonien und Albanien ca. 25 Lager. Einige sind überfüllt wie in Malakasa und Eleonas. Das letzte ist eine Anreihung von Containern und provisorischen Baracken in einer sehr armen Stadtrandregion von Athen. Es gibt viele Kinder und Neugeborene.

Den Bericht der Gemeinschaft Stant' Egidio aus Griechenland finden Sie hier:

https://www.santegidio.org/pageID/30284/langID/de/itemID/40188/Auf-Lesbos-gibt-es-in-den-Zelten-mitten-im-eiskalten-Sturm-die-Hoffnung-der-humanitären-Korridore.html