Sterbehilfe-Urteil: Glettler sieht die „Tür zu einem hochproblematischen Weg“ offen

Der Innsbrucker Bischof warnt, dass Schwerkranke und Hochbetagte immer öfter den assistierten Suizid wählen werden, um niemandem zur Last zu fallen.

„An der Hand eines Menschen sterben und nicht durch die Hand eines anderen Menschen“, an diese Worte von Kardinal König erinnert der Innsbrucker Diözesanbischof Hermann Glettler im Rahmen der Diskussionsreihe „Der Standard – mitreden“ zum Urteil des Höchstgerichts, dass der §78 – Mitwirkung bei Selbstmord – gegen die Verfassung verstoße.

 

Gerade das Corona-Jahr habe gezeigt, wie kostbar und wie verwundbar zugleich menschliches Leben ist. Vulnerable Gruppen wurden im Corona-Jahr ganz selbstverständlich als schützenswert erkannt. Der für Lebensschutz in der Österreichischen Bischofskonferenz zuständige Bischof stellt fest, dass mit diesem Urteil „ein anderes Signal gegeben worden ist“. Menschen in verzweifelter Lebenssituation können zukünftig nicht mehr automatisch mit dem Beistand der Gesellschaft rechnen.

 

Gemeinsam mit Palliativmedizinerin Veronika Mosich (ärztliche Leiterin des Caritas Socialis Hospiz Rennweg), der Vorsitzenden der Bioethikkommission Christiane Druml und Anwalt Wolfram Proksch (er hat das Urteil vor dem Höchstgericht zum assistierten Suizid erwirkt) diskutierte der Innsbrucker Bischof die Folgen des Urteils. An den Anwalt gerichtet, der als Beispiele für einen vom Gesetzgeber legitimierten Einsatz des assistierten Suizids auch wiederholte Depressionen nannte, sagte er: „Sie merken hoffentlich selbst, was sich da für eine Tür auftut“. Es sei schwer eine Grenze für „unerträgliches Leid“ zu ziehen. So könnte Druck auf Patienten entstehen, ihrem Leben ein Ende zu setzen – auch bei Menschen, die an psychischen Krankheiten leiden oder sich schuldig gemacht haben, oder weil sie „nur mehr ein Kostenfaktor in dieser durchökonomisierten Gesellschaft sind“. Um Pflegende zu entlasten könnten die Menschen sich angeregt und gedrängt fühlen, den assistierten Suizid als Ausweg zu wählen. Man spreche in diesen Fällen von einer „internalisierten Fremdbestimmung“.

 

Die Würde des Menschen kommt unter die Räder 

Der Bischof weist auf seine Erfahrungen als Seelsorger hin, der Bescheid weiß, „wie herausfordernd es sein kann, wenn sich Menschen in äußerst schwierigen Lebensphasen befinden, und was dies auch für die Angehörigen bedeutet“. Er warnt davor, dass Phasen der Verzweiflung und Einsamkeit zukünftig als Bitten um Hilfe zur Selbsttötung fehlgedeutet werden könnten. Wichtig seien in solchen Fällen dagegen menschliche Nähe und ein Netzwerk, das trägt, so der Bischof. Die geltenden gesetzlichen Bestimmungen hätten außerdem vollkommen ausgereicht, um mittels Patientenverfügung und anderer Instrumentarien eine unwürdige Verlängerung des eigenen Lebens zu verhindern. Zum Leben gehöre auch ein Sterben-Dürfen, das durch „eine intensivmedizinische Behandlung um jeden Preis“ nicht verunmöglicht werden sollte.

 

„Ich sehe durch diesen vom VfGH geöffneten Türspalt ein unglaublich gefährliches Feld, wo letztlich Menschen beurteilen, welches Leben noch lebenswert ist und welches nicht. Die Würde des Menschen, die unverfügbar ist, kommt da vollkommen unter die Räder“, warnt Bischof Hermann. Natürlich steht niemandem ein Urteil über Menschen zu, die letztlich aus einer abgründigen Not heraus den Suizid gewählt haben. Aber diesen als einen zu unterstützenden Weg der Lebensbeendigung darzustellen, „beschädigt eine bisher gültige Kultur des Lebens.“ Das Urteil des Verfassungsgerichts sei für viele ein Schock gewesen, der aber dazu führe, jetzt umso intensiver nachzudenken, „was die Qualität unseres Lebens und menschlicher Beziehungen wirklich ausmache?“ Gefährlich ist es in jedem Fall, wenn wir in einem Paradigma des Machens auch vor dem Sterben nicht Halt machen. Es ist erschreckend, wenn wir alles im Griff haben wollen und uns dabei „auch das Leben nehmen“.

 

Diese Fragen gehen für ihn über die Aufgaben des Staates hinaus: „Das Höchstgericht hat den Ball an den Staat zurück gespielt, an die gesetzgebende Kraft, die mit dieser Aufgabenstellung jedoch heillos überfordert ist.“ Der Innsbrucker Bischof regt nicht nur aus diesem Grund breit aufgestellte Dialogforen an, um das sensible Thema anzugehen, was es für uns im 21. Jahrhundert bedeute, „in Würde zu leben und in Würde zu sterben“. Diese Gesprächsgruppen sollten einen möglichst weiten weltanschaulichen und konfessionellen Querschnitt der Gesellschaft berücksichtigen. Für Glettler ist es auch wichtig, Pflegende von Schwerstkranken miteinzubeziehen. Eine breite Diskussion ist auch für die anderen TeilnehmerInnen des Standard-Gesprächs wünschenswert – schließlich hat das VfGH-Urteil bei einem Großteil der Bevölkerung eine spürbare Verunsicherung ausgelöst.