Scheuer: Christen und Juden sind aufeinander angewiesen

Bischof Manfred Scheuer referierte in Wien über "jüdische Wurzel" der Kirche

Judentum und Christentum bleiben - trotz aller historischen Erfahrungen - "aufeinander angewiesen in der Verantwortung für die Weltgeschichte". Dies unterstrich der Innsbrucker Diözesanbischof Manfred Scheuer am Donnerstagabend bei einem Vortrag in Wien zum Thema "Die Kirche Jesu Christi und ihre jüdische Wurzel". Dabei unterstrich Scheuer ausdrücklich, dass gerade angesichts der langen und traurigen Tradition des christlichen Antisemitismus das Christentum in besonderer Weise vom Judentum zu lernen habe: etwa im Blick auf die "lebendige eschatologische Dimension unseres Glaubens", d.h. die Dimension des "noch nicht", des Wartens auf die Erlösung, für die das Judentum stehe.

Keine der beiden Religionen - so Scheuer unter Verweis auf das Werk "Keine Religion ist ein Eiland" des jüdischen Religionsphilosophen Abraham Joshua Heschel - habe die Kraft, "es allein zu schaffen.

Beide müssen wir erkennen, dass in unserem Zeitalter Anti-Semitismus zugleich Anti-Christentum ist und Anti-Christentum gleich Anti-Semitismus". Die gemeinsame Verantwortung erwächst Christen und Juden laut Scheuer aber auch aus dem theologischen Grund eines beiderseitigen "Leidens" an der Welt: Wie nämlich dem Judentum ein Leiden aus "Weltverneinung" entspringe, so leide das Christentum unter seiner "Weltbejahung".

In einem weit ausholenden Durchgang durch die Geschichte insbesondere des Christentums zeigte Bischof Scheuer auf, wie wichtig die Festigung neuer jüdisch-christlicher Einheit spätestens seit dem Dokument "Nostra aetate" des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) sei. So interpretiere etwa bereits der neutestamentliche "Barnabasbrief" das Alte Testament nur als "dunkle Folie" und als "Vorausoffenbarung" einer christlichen, vollkommenen Zeit. Die Saat solchen Denkens sei schließlich auch bei den Kirchenvätern wie dem heiligen Augustinus oder Johannes Chrysostomus im 4. Jahrhundert aufgegangen und habe eine "Atmosphäre der grenzenlosen Diffamierung" befördert, so Scheuer.

Bruch mit antisemitischer Tiefengeschichte  

Mit diesen Traditionen, die auch eine Vorgeschichte der nationalsozialistischen Judenvernichtung darstellten, habe sich das Konzil auseinandersetzen müssen. Ein wichtiger Impulsgeber für Konzilspapst Johannes XXIII. sei dabei der jüdische Historiker Jules Isaac gewesen, der bereits 1960 bei einer Audienz dem Papst ein Dossier mit jenen entscheidenden Fragestellungen vorlegte, auf die später die Konzilsväter in "Nostra aetate" antwort gaben: "Wer trägt die Verantwortung für den Tod Jesu, und wie steht das Volk Israel heute in der Verheißung Gottes? (...) Welche Mitverantwortung trägt die Kirche für den modernen Antisemitismus? (...) Welche Konsequenzen sind aus der Beantwortung dieser Fragen für die liturgische und katechetische Praxis zu ziehen?"

Jüdisches "Einspruchsrecht"  

"Nostra aetate" habe schließlich vor dem Hintergrund dieser Fragen deutlich die Gemeinsamkeiten hervorgehoben "ohne blind zu sein für Differenzen und Probleme", so Scheuer. Auch erkenne das Dokument ausdrücklich den bleibenden "heilsgeschichtlichen Zusammenhang" an, in dem das Volk Israel stehe. Außerdem erinnerte Scheuer ausdrücklich daran, dass das Dokument dazu aufrufe, "alle kirchlichen Aussagen in gemeinsamer Arbeit im Geiste des Evangeliums und im Geiste Christi zu prüfen", d.h. es gebe ausdrückliche "Einspruchsrechte von jüdischer Seite in zentrale kirchliche Aufgaben wie Katechese, Verkündigung und Theologie".

Der darin angelegte "Dynamismus" habe zu einer "weitgehenden Sprach- und Ritualreinigung" geführt. Daher kann man laut Scheuer festhalten: "Die Juden sind konstitutiv in die Suche nach dem kirchlich-christlichen Selbstverständnis und jeder Beziehung der Kirche zu ihnen eingebunden, weil die Grundlage im Evangelium nicht hinreichend verstanden werden kann, ohne auf das aktuelle Judentum zu horchen."

Der Vortrag von Bischof Scheuer stand in der Reihe "AGORA" der Kontaktstelle für Weltreligionen, die sich heuer dem Semesterthema "Das Geheimnis Gottes im interreligiösen Grenzverkehr: Synkretismus und Authentizität" widmet. Als nächstes wird in dieser Reihe am Donnerstag, 1. Dezember, der Münsteraner Islamwissenschaftler Prof. Marco Schöller zum Thema "Die Einzigkeit des Korans und die allgemeinen Grundwerte des Islams" referieren (Beginn: 18.30 Uhr).

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