Petrus Canisius als Patron der Neu-Evangelisierung?

Bischof Manfred Scheuer beim Schlussgottesdienst des Diözesantages am Festtag des Diözesanpatrons Petrus Canisius. Die Predigt im Wortlaut.

Zweiter Apostel Deutschlands, so wird der hl. Petrus Canisius bezeichnet. In einer Zeit der sittlichen und religiösen Verwahrlosung Tirols hat er den Glauben verkündet, Bildungsarbeit geleistet, Seelsorge betrieben unter schwierigen Voraussetzungen. Er hat zumindest einigen Tirolern den Glauben wieder nahe gebracht und diesem Glauben auch eine sinnliche anschauliche Gestalt gegeben. Es ist nicht übertrieben, dass er am Beginn einer neuen Evangelisierung Tirols stand. Sollen wir ihn zum Patron der Neu-Evangelisierung ernennen?

Die Bezeichnung „Neu-Evangelisierung" erweckt spontan Unbehagen: Wie es damals gelang, das Abendland für das Christentum zu gewinnen, so müsste es unter Aufbietung aller Kräfte doch auch heute möglich sein, dem Evangelium „zum Sieg" zu verhelfen, d.h. zur Anerkennung seitens der Mehrheit der Tiroler und Europäer mit dem Ziel eines wiederum heiligen Landes Tirol und christlichen Europas. Wie hat es denn - in soziokultureller Sicht - damals das Evangelium „geschafft“, die Masse der Menschen zu erreichen und zur Religion Europas zu werden? Doch dadurch, dass politische Herrscher, aus welchen Gründen auch immer, das Christentum angenommen und es für ihre Untertanen entweder strikt vorgeschrieben oder mit sanftem Druck durchgesetzt haben, ein Druck, der dann in und durch die Gesellschaft weitergeführt wurde. Genau das aber wird sich wohl niemals mehr wiederholen, abgesehen von der vermutlich auch nicht rücknehmbaren Pluralisierung des Lebens und Individualisierung von Lebensoptionen.

Nach dem Zerfall des Heidentums – konstantinische Wende wurde das Christentum zum integralen Bestandteil der Gesellschaft wurde und zum neuen Verwalter der religiösen Bedürfnisse des Imperiums. Der Schritt zur Volkskirche war kein „Sündenfall“. Denn dadurch erreichte das Evangelium die Welt auch in ihren öffentlichen, gesellschaftlichen Dimensionen. Überall waren die Zeichen Christi aufgerichtet. Auf der anderen Seite aber war der Preis dafür sehr hoch. Christsein wurde kaum noch als Sache der persönlichen Glaubensentscheidung angesehen; es war für die meisten ein absolut selbstverständlicher Faktor des soziokulturellen Umfelds. Kierkegaard: Am Anfang - sagt er - gab es keinen Christen, dann wurden alle Christen, und so gab es wieder keinen Christen; also stehen wir jetzt wieder am Anfang. Wenn alle Christen sind, ist im Grunde keiner Christ, weil dann Entscheidendes am Christsein, das Herausgerufen- und Berufensein, fehlt. Entsprechend wurden dann auch in der christlichen Welt die Grund-Sätze des Glaubens allzu sehr „natürlichen Plausibilitäten“ angepasst. Kurz mit den Worten von Kardinal Kurt Koch: „Die Christianisierung des römischen Imperiums hat unweigerlich auch zur Imperialisierung des Christentums geführt.“ Das ist greifbar im kirchlichen Amt, das sich immer noch ein gut Stück weit unter den Vorzeichen von Macht, Vollmacht und Leitungsbefugnis konstituiert, in einer Seelsorge, die sich nicht selten als amtliches Dienstleistungsunternehmen im Bereich „Lebensorientierung, Moral und Ritual“ versteht.

Auch der Begriff der Weitergabe des Glaubens ist nicht unproblematisch. Glaube ist nach eindeutiger Lehre der Kirche Gnade, Gabe, Geschenk, etwas, was wir nicht machen können, was wir allein von Gott her empfangen (auch wenn dabei unsere Freiheit mit eingefordert ist). Selbst wenn wir davon ausgehen dürfen, dass Gott jedem Menschen die Gabe des Glaubens schenkt, so geschieht dies doch wann, wie und wo ER will und nicht selten auch in der Form des - mit Rahner gesagt - „Anonym-Christlichen“.

Zeuge und Lehrer 

„Der moderne Mensch hört lieber auf Zeugen als auf Lehrer, wenn er auf Lehrer hört, dann deswegen, weil sie Zeugen sind.“[1]Überzeugung zum Leben, zu Werten, zum Evangelium, Überzeugung zum Glauben an den Gott Jesu Christi geschieht durch Zeugen, d.h. durch Menschen, deren Existenz vom Bezeugten ergriffen und geprägt ist. Das ist zunächst psychologisch in dem Sinn zu verstehen, dass gegenwärtig integralistische Vereinnahmung und rationale Argumentation nicht opportun sind. Von Jesus Christus her ist der Zeuge die der Offenbarung angemessene Vermittlungsgestalt.[2]In der menschlichen Gestalt Jesu leuchtet die Wahrheit und die Herrlichkeit Gottes auf (Joh 1, 14), er ist der Weg zum Vater (Joh 14,6), er ist der treue und wahrhaftige Zeuge (Off 3,14).

Das Zeugnis lebt von der Wahrheitsfähigkeit und Wahrheitswilligkeit. Das Zeugnis will die tödliche Maschinerie des Leidens überwinden und die Praxis Jesu erschließen. Zeugnis ist kein bloß erbauliches Spiel der Liebe mit sich selbst. Es ist als Vollzug des Glaubens konstitutiv auf Kommunikation hin ausgerichtet. Zeugnis ist also vom Reich Gottes her keine heimliche Version des Willens zur Macht. Der Zeuge hingegen ist bereit, die Aporien von Leid und Verzweiflung auf sich zu nehmen und auszuleiden. Ihm wohnt die gewaltlose Form der Liebe inne.

Wer die Wahrheitsfrage grundsätzlich unter Ideologieverdacht stellt, wer sie ignoriert und marginalisiert, der eröffnet nicht einfach das große Spiel der Freiheit, sondern überlässt das Feld dem Konkurrenzkampf. Wahrheit ist nicht zu lösen von Freiheit.[3], hat aber auch einen interpersonalen Aspekt und einen existentiellen Bezug (Wahrhaftigkeit). Um der Humanität, aber auch um des christlichen Glaubens willen darf die Wahrheitsfrage nicht auf dem Altar der Beliebigkeit geopfert werden. „Um der Treue zu Jesus und dem von ihm verkündeten Gott willen, ist die Unterscheidung zwischen Glaube und Aberglaube, Wahrheit und Irrtum, Behauptung und Begründung in Sachen Religion notwendig. Aus Treue zu Jesus und seinem Vater dient diese Unterscheidung dem christlichen Zeugnis für eine Hoffnung auf ewiges Leben für alle, denen die Liebe Gottes gilt.“[4]

Stellvertretung 

Stellvertretung ist etwas Urchristliches: Jesus nimmt uns mit auf unserem Weg, heißt es in einem Kinderhochgebet. Wir nehmen die anderen mit. Stellvertretung heißt: Räume des Gebetes, der Hoffnung und der Liebe eröffnen und offen halten, wo diese bei anderen verschlossen sind, wo nichts mehr erwartet ist, weil der Schmerz zu groß, die Erschöpfung zu stark, die Zumutung des Leidens zu massiv war. Stellvertretung heißt auch: Ins Leere, ins Umsonst hinein lieben, damit andere wieder liebesfähig werden und einen Lichtblick sehen.

Sendung und Stellvertretung werden immer mehr zu Schlüsselworten der Kirche, die nicht mehr alle umfasst. Unsere Sendung, unsere Stellvertretung ist Dienst an der Welt und den Menschen mit all ihren Sorgen und Nöten. Egal, ob wir viele oder wenige sind – wir stehen für viele. Stellvertretung bewahrt in uns eine Haltung der Offenheit und schützt davor, dass wir uns in eine Enklave zurückziehen. Wenn wir nur noch das Gleiche reproduzieren oder unsere kirchliche Heimat verteidigen wollen, würden wir den Untergang verwalten, nicht aber zukunftsfähig sein.

Stellvertretung heißt: der eine Mensch, indem er sein Leiden annimmt, bleibt mit dem anderen in dessen Leid solidarisch und geht dessen Weg mit. Im gegenseitigen Austausch trägt einer des anderen Last mit. Der eine schafft in der Annahme des Leidens dem anderen Raum, so dass dieser das ihm zugemutete Leiden besser annehmen und tragen kann. Stellvertretung ist ein Beziehungsgeschehen und ein Geschehen der Mitteilung: In der Beziehung geschieht Hilfe, Annahme und Stütze. Einer trage des Anderen Last. Die zu tragende Last wird dadurch nicht weniger, aber sie wird wirksam miteinander und füreinander getragen. So leidet Christus stellvertretend für uns.

Der Dienst an der Freude und an der Hoffnung ist gerade in einer krisengeschüttelten Kirche, in Erfahrungen der Nacht, der Erfolglosigkeit und der Vergeblichkeit gefragt. Ein Priester sollte kein Agent der Resignation, sondern ein Anwalt der Hoffnung sein. „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2 Tim 1,7) In der ignatianischen Spiritualität verbünden sich ein gesunder Realismus, Nüchternheit mit der Freude im Glauben und mit der Hoffnung als einem wichtigen Kriterium zur Unterscheidung der Geister.

Manfred Scheuer, Bischof von Innsbruck 

[1]Paul VI., AAS 66 (1974), 568.

[2]Vgl. dazu: Hermann Josef Pottmeyer, Zeichen und Kriterien der Glaubwürdig­keit des Christentums, in: HFTh 4, 373-414, bes. 400-406; Bernhard Welte, Auf der Spur des Ewigen, Freiburg i. B. 1965, 337-350.

[3]„Die absolute Religion ist so die Religion der Wahrheit und Freiheit.“ (Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II (Theorie Werkausgabe Bd. 17), 203.

[4]Thomas Söding, „Wer sich zu mir bekennt ...“ (Lk 12,8) Der Anspruch Jesu und die Universalität des Evangeliums, in: ders. (Hg.), Ist der Glaube Feind der Freiheit? Die neue Debatte um den Monotheismus (QD 196), Freiburg i. B. 2003, 53-122, hier 122.

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