Mehr Mitspracherechte für pflegende Angehörige gefordert
Es war eine ungewöhnliche Idee, die 1983 entstanden ist: Eine Urlaubswoche für Familien mit Kindern und Erwachsene mit Behinderung. Hinter dieser Aktion standen die damalige Leiterin des Bildungshauses St. Michael und Inge Ramsauer aus dem Vorstand der Lebenshilfe Tirol. Feste Betreuungszeiten und ein Programm aus Wandern, Singen und Spielen sollen den Eltern freie Zeit zum Ausspannen und gemeinsame Aktivitäten bieten. Heuer startete die 40. dieser Ferienwochen, mittlerweile eine echte Institution im Bildungshaus. Grund genug, dieses Jubiläum gebührend zu feiern, mit einem gemeinsamen Gottesdienst am Sonntag, 4. August 2024.
In seiner Predigt wies der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler darauf hin, dass trotz besserer gesetzlicher Rahmenbedingungen, einer breiteren gesellschaftlichen Akzeptanz und technologischer Fortschritte in den letzten Jahren in den Belangen von Menschen mit Behinderungen noch viel zu tun bleibe. Den 80.000 Pflegenden in Österreich gebühre mehr Aufmerksamkeit und ein Mitspracherecht bei allen sie betreffenden Entscheidungen. Bei dem Gottesdienst würdigte der Bischof die Hingabe, das Herzblut und die "geduldige Menschlichkeit" jener, die ihre leicht- oder schwerbehinderten Familienmitglieder pflegen: "Nichts ist selbstverständlich, wird aber immer noch für selbstverständlich erachtet." Die Familien "dürfen nicht die Bittsteller der Nation sein. Ihre Care-Arbeit ist unendlich wertvoll", ergänzte der Bischof auf seinem Instagram-Account.
Etwa 100 Gäste, die auch am anschließendem Empfang auf der Terrasse und einem gemeinsamen Rückblick auf die vier Jahrzehnte mit Fotos und Videos teilnahmen, begrüßten die Kooperationspartner Bildung St. Michael, die Lebenshilfe und das Leitungsteam um Wolfgang und Christine Sieberer. Darunter waren viele ehemalige Teilnehmende, die früheren Leiterinnen Inge Ramsauer und Gabriele Danler, als Kooperationspartner der Lebenshilfe Wilfrid Pleger, die Leiterin von Bildung St. Michael, Magdalena Modler-El Abdaoui sowie derzeitige und ehemalige Mitarbeitende des Bildungshauses. Ein Fest, das sich bei Klaviermusik bis in den späten Nachmittag zog.
Doch die Feier war nicht der einzige Höhepunkt der diesjährigen Urlaubswoche. Am Donnerstag folgte noch ein Platzkonzert mit der Musikkapelle Matrei und dem Trachtenverein, um das Jubiläum abzurunden. Dabei wurden Ehrungen des Tourismusverbandes verliehen. Die Diözesanleitung vertrat Angelika Stegmayr, Pastoraler Bereich BILDUNG.gestalten.
Die Feierlichkeiten in Bildern
Predigt im Wortlaut
Die Lebenshilfe Tirol und das Bildungshaus St. Michael veranstalten heuer zum 40. Mal eine Ferienwoche für Familien mit Angehörigen mit einer Behinderung.
Die Zielgruppe dieser besonderen Ferien-Initiative, deren Initiator und langjähriger Betreiber der Religionslehrer Wolfgang Sieberer ist, sind Menschen mit Behinderungen aus Tirol mit ihren Eltern, Großeltern und Geschwistern.
Das Programm ist vielfältig: Ausspannen, Natur genießen, singen, spielen, kreativ sein, wandern, miteinander reden – auch Besinnliches für Geist und Seele ist dabei. Zu festen Betreuungszeiten gibt es vielfältige Programmangebote, sodass die Eltern freie Zeit für sich haben oder bei unterschiedlichen Aktivitäten und speziellen Gesprächsrunden Gemeinschaft erleben können.
Bischof Hermann Glettler feierte zum Jubiläum mit den Teilnehmer:innen der längst schon Tradition gewordenen Ferienwoche im Bildungshaus St. Michael im Tiroler Wipptal einen festlichen Gottesdienst. Einige Auszüge aus seiner Ansprache bei diesem besonderen Fest:
Heute gibt es viele Gründe zu danken: In letzten 40 Jahren hat sich aufgrund gesetzlicher Rahmenbedingungen, gesellschaftlicher Akzeptanz und technologischer Fortschritte vieles zum Positiven entwickelt. Unsere Gesellschaft ist für die Belange von Menschen mit Behinderung und deren Angehörige sensibler geworden. Es gibt Fortschritte bei Hilfsmitteln, mehr Barrierefreiheit im öffentlichen Raum, mehr inklusive Bildungs- und Freizeitangebote und teilweise und vieles mehr.
Ein besonderer Dank gilt heute jedoch den Eltern und Familien, die ihre Kinder und Jugendlichen mit großer Hingabe und berührender Menschlichkeit begleiten, betreuen und pflegen. Ihnen gebührt hohe Anerkennung. Nichts ist selbstverständlich, wird aber immer noch für selbstverständlich erachtet. Wir müssen wesentlich stärker das Bewusstsein schaffen für die Situation von Angehörigen, die ein behindertes Kind pflegen – sind ca. 80.000 in Österreich. Wichtig ist, auf die Herausforderungen im Alltag von pflegenden Angehörigen aufmerksam zu machen und ihnen ein Mitspracherecht bei sie betreffenden Entscheidungen einzuräumen.
Und es bleiben noch weitere Fragen offen: Karl Medwed (pflegender Vater und Obmann des Vereins „Angehörige von Menschen mit Behinderungen“) schilderte, dass bei vielen Eltern (und vor allem sind dies Mütter!!!), die ihr Kind fast ihr ganzes Leben lang gepflegt haben, große Sorge jene sei, was mit dem Kind nach ihrem Tod passiere. „Vielen wäre es lieber, wenn ihr Kind vor ihnen stirbt, damit die Ungewissheit des Danach wegfällt.“ Wohngemeinschaften, wo Menschen mit Beeinträchtigungen über den Tod ihrer Eltern hinaus, gut betreut und möglichst selbstbestimmt leben können, müssen erst errichtet werden. Wir sind auch als Caritas mit einem Projekt im Zillertal in dieser Hinsicht aktiv.
Inklusion – d.h. ein gewolltes und tatsächlich gelebtes Miteinander bleibt ein gesellschaftlicher Dauerauftrag für uns alle. Sie beginnt im Kopf und im Herzen – Barrierefreiheit heißt nicht nur Baumaßnahmen vorzunehmen, sondern auch Barrieren im Kopf und im Herzen abzubauen. Die 40. Ferienwoche für Familien mit besonderen Familienmitgliedern und besonderen Herausforderungen ist Anlass, um zu danken – von Herzen! – aber auch um mit Zuversicht in Richtung einer größeren Verbundenheit weiterzugehen. Wir alle brauchen einander – und sind von Gott gesegnet!
Oben (v.l.n.r.) Michaela Schwarz, Fachreferentin bei Bildung St. Michael; Gabriele Danler, langjährige Leiterin des Projekts bei der Lebenshilfe - Mitte: Wilfrid Pleger, Vereinsmanager der Lebenshilfe, Christine und Wolfgang Sieberer, seit über 20 Jahren Leitungsduo für die Urlaubswoche - Unten: Inge Ramsauer, Gründerin des Projekts 1983 für die Lebenshilfe, Magdalena Modler-El Abdaoui (Programmleiterin Bildung St. Michael)