Hirtenwort zur Fastenzeit 2022
Im Synodalen Prozess, zu dem uns Papst Franziskus als Teil der Weltkirche eingeladen hat, geht es um Teilhabe, Beteiligung und Mitbestimmung – all das zeichnet eine lebendige Gemeinschaft aus. Erleben und leben wir das? In jedem Fall darf Kirche nicht ein in sich geschlossener Verein sein, der nur den Kreis der engsten Mitglieder bedient, aber die anderen außen vorlässt. Auch wünscht sich niemand eine starre Organisation, die jede menschliche Nähe verloren hat. Angesichts der vielen Vorwürfe und Kirchendiskussionen stellt sich mir die Frage, wie es möglich ist, die Freude am Glauben in dieser unserer Kirche neu zu entdecken? Ich schlage vor, zuerst dankbar auf das zu schauen, was uns geschenkt wurde.
1. Teilhaben dürfen – das Geschenk der Taufe
Es ist nicht selbstverständlich, dass uns jemand gewollt und zu uns Ja gesagt hat. So wie in der Geschichte von Thomas, einem heranwachsenden Burschen aus einem schwierigen Milieu, der sehr gewaltbereit war. Ich erinnere mich immer wieder an ihn. Er wollte sich das Leben nehmen, weil ihm sein Leben „wie ein einziger Griff in den Kanal“ vorkam. In seiner chaotischen Wohnung hatten wir noch ein letztes Gespräch. „Zufällig“ kam er auf seinen früh verstorbenen Vater zu sprechen und kramte sein einziges Erinnerungsstück hervor. Es war ein Taufheft, in dem dieser schrieb: „Für meinen Thomas, den ich sehr gern habe!“ Das war der Schlüssel für einen Neubeginn. Dank an Gott, die folgenden seelischen „Aufräumarbeiten“ sind gut verlaufen. Heute ist Thomas ein glücklicher Familienvater. Durch ein gutes Wort seines Vaters konnte er das Geschenk des Lebens für sich entdecken.
Wir sind getauft! Es ist keineswegs selbstverständlich, dass uns Eltern oder andere Personen auf die Spur des Glaubens gebracht und in die Kirche begleitet haben. Durch Taufe, Erstkommunion und Firmung ist uns eine Teilhabe am Gott des Lebens geschenkt worden. Diese Zugehörigkeit ist kostbar, sie trägt und tröstet – gerade in schwierigen Phasen. Wir sind Schwestern und Brüder Jesu! Aus der Verbindung mit ihm wächst eine Verbundenheit mit allen Menschen, eine neue Geschwisterlichkeit. Zärtlich und kraftvoll begleitet der Heilige Geist, indem er uns stärkt in einer Weggemeinschaft mit unendlich vielen Suchenden, Glaubenden und Zweifelnden. Das ist Kirche! Wir erleben miteinander beglückende Wegstrecken, aber auch Momente realen Versagens.
2. Teilnahme verweigert – Wunden der Exklusion
Dazugehören, nicht ausgeschlossen sein! Diese Sehnsucht reicht zurück in unsere erste Lebensphase. Sie berührt den innersten wunden Punkt jedes Menschen – die Sorge, wirklich angenommen und geliebt zu sein. Erinnern wir uns an die Geschichte von Thomas. Wenn jemand systematisch hinausgedrängt wird, passieren Kränkungen mit Langzeitfolgen. „Bei euch aber soll es nicht so sein“, mahnt uns Jesus im Evangelium. Er, der ohne Berührungsängste versucht hat, Menschen zu integrieren und ihnen Ansehen zu geben, wurde selbst ausgeschlossen. Das Kreuz stand draußen vor der Stadt. Die Fastenzeit ist für uns persönlich und als Kirche insgesamt eine Zeit für Umkehr. Dazu kann auch die Bitte um Entschuldigung gehören – zum Beispiel gegenüber jenen Menschen, denen wir echte Teilnahme verweigern.
In der gesellschaftlichen Debatte werden wir immer wieder von enormen Aggressionsschüben überrascht. Eine hohe Zahl von Menschen hat den Eindruck, von gesellschaftlichen und technischen Veränderungen überrollt oder „abgehängt“ zu werden. Sie empfinden zunehmend eine Ohnmacht gegenüber einem „System“, das sich nicht beeinflussen lässt. Die daraus resultierende Systemwut ist allerorts spürbar. Sie nährt und befeuert sich aus dem Gefühl, nicht mehr teilnehmen und mitgestalten zu können. Es ist für uns als Kirche und für die ganze Gesellschaft eine enorme Herausforderung, die vielen enttäuschten und kaum mehr gesprächsbereiten Menschen wieder neu zu erreichen. Ganz bestimmt brauchen wir viel Heiligen Geist für ein neues Zuhören und Vertrauen.
3. Pfarrgemeinderat – aktive Beteiligung
Eine zentrale Frage des Synodalen Prozesses lautet: Wie gelingt es uns, Menschen auf dem Weg des Glaubens so zu begleiten, dass sie selbst zu aktiv Beteiligten werden? Sie sollen der Kirche mittendrin ein persönliches Gesicht geben. Vielfach geschieht dies in unseren Pfarren, im Religionsunterricht, in Pflegeheimen und Krankenhäusern und an anderen Orten, wo sich das Leben abspielt. Kirche ist kein Solo-
stück. Das Orchester ist gefragt. Nicht zufällig sind Beteiligung und Mitbestimmung zwei Schlüsselworte für die bevorstehende PGR-Wahl: Wenn Menschen sich selbst, ihre Zeit und Energie einbringen, wollen sie ernsthaft mitgestalten können. Dafür braucht es den Grundakkord von Wertschätzung. Dennoch fällt vielen ein längerfristiges Engagement schwer. Es liegt an uns, zeitlich begrenzte Projekte vorzuschlagen und vor allem neue Herzfeuer des Glaubens zu entzünden.
Mein Dank gilt allen, die belastete und verwundete Menschen in die Gemeinschaft zurückholen, ihnen mit Geduld Anteil geben. Ich danke allen, die trotz eigener Fragen und Unsicherheiten ihren Glauben im unmittelbaren Lebensumfeld mit anderen teilen. Am überzeugendsten sind dabei immer einfache Worte und liebevolle Gesten. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Weggemeinschaften, die kleine Frischzellen von Kirche sind. Sie können aus der Teilnahme an den Exerzitien im Alltag heraus entstehen. Allen Krisenschilderungen zum Trotz versuchen wir eine synodale Kirche zu sein. Sie ist, wie der Augsburger Bischof Bertram Maier einmal meinte, eine besondere „GmbH“, eine Gemeinschaft mit begründeter Hoffnung, berührbaren Herzen und bereiten Händen.
Mit dem Wunsch für eine gesegnete Fastenzeit im Vertrauen auf Jesus, den Herrn, der mitgeht, nachgeht und vorangeht, grüßt und segnet Euch
Hermann Glettler, Bischof von Innsbruck