Grünkraft zum Leben

Wortlaut der Predigt von Bischof Hermann Glettler beim Radiogottesdienst aus dem Innsbrucker Dom am 1. Adventdsonntag.

Liebe Schwestern und Brüder! 

Einleitung: Ich vermute, dass Ihr jetzt mit einer gewissen Ruhe, fast kindlichen Freude dabei seid – auch wenn sich der Adventbeginn heuer etwas anders anfühlt. Die Ruhe, die Nicht-Aktivität und Besinnlichkeit, die wir sonst gerne in Adventgedichten beschwören, ist uns jetzt verordnet. Der Lockdown II hat vieles entschleunigt – eine sonderbare Situation. Die Straßen und Plätze waren gestern Abend, am Vorabend zum Advent mit Sicherheit noch nie so „adventlich“, noch nie so Hektik-frei und leer. Keine Veranstaltungen, keine Zusammenkünfte, keine Einweihung der Glühweinstände und Christkindlmärkte – für die einen eine Enttäuschung, für andere Advent pur. Aber so leicht lässt sich Besonnenheit nicht verordnen. Advent gibt es nicht auf Knopfdruck. Die Idylle wird gestört durch ebenso viel Unruhe, Nervosität und Ungeduld, die wir im Herzen tragen. Damit es Advent wird, braucht es eine innere Entscheidung. Der grüne Kranz und die Kerzen helfen uns dabei.

  • Für verwelktes Laub eine adventliche „Grünkraft“?

„Wie Laub sind wir alle verwelkt.“ Dieses Bild des Propheten Jesaja geht mir nahe, es spricht vom Zustand der Heimkehrer aus dem Exil. Ein Bild, das die Empfindung vieler Menschen wiedergibt: Müde, erschöpft, ja welk klebt unsere Seele am Boden. Es mangelt an Inspiration, an innerem Antrieb – alles ist welk geworden, das Gemüt, die Gedanken, die großen Ideen und Vorhaben. Mühsam und mühselig fühlen sich die Tage an. Das Bild ist stark: Häufen von Laub, wenn im Park sauber gemacht wird. Blätter, die soeben noch herrlich bunt in der Luft gestrahlt und tänzelnd zu Boden fielen, kleben jetzt welk aneinander, bereit zum Vermodern und Verwesen. Wenn dieses Bild unser Inneres trifft, dann braucht es mehr als nur ein paar nette Worte, um die Stimmung aufzuheitern. Die heutige Lesung ist die Klage von erschöpften Menschen, die unter dem eigenen Versagen leiden. Sie bitten Gott um einen Neubeginn: „Belebe uns doch Gott, komm Du uns entgegen! Bist Du denn nicht unser Vater?“ Hilf uns aufstehen, wir kleben am Boden! Mit diesem energischen Gebet beginnt der Advent.

Wenn ich das grüne Reisig am Adventkranz sehe, muss ich an den Ausdruck „Grünkraft“ denken. Er stammt von der heiligen Hildegard von Bingen. Die „viriditas“ (Grünkraft) war die kreative Energie beim Vorgang der Schöpfung und sie wirkt nicht weniger intensiv bei jeder Heilung und Erneuerung des Menschen. Letztlich bezeichnet Hildegard Christus Jesus selbst als die wahre Grünkraft, die allen Wesen innewohnt. Advent ist die Zeit, diese Grünkraft Gottes zu erwarten, zu erbitten und aufzunehmen, ja fast aufzusaugen! Advent ist die Zeit, Jesus zu erwarten – jetzt schon, nicht erst am Ende der Zeiten. Das grüne Reisig vom Adventkranz ist das Gegenbild zum welken Laub. Unsere Seele braucht eine neue Frischezufuhr, eine Begegnung, die verwandelt und neu macht. 

Mein 1. Adventtipp: Vertrauen wir Gott unsere Niedergeschlagenheit und Müdigkeit an, vielleicht auch eine versteckte Traurigkeit. Ehrlich beten, nichts schön reden! Mit dem Herzen beten! Gott antwortet. Er schenkt uns seine Grünkraft.

  • Nicht mehr gefangen im trostlosen Speed?

Neben dem Grünzeug sollten wir auch den Kranz beachten. Ich erinnere mich an eine Religionslehrerin, die mit großem Eifer den Kindern die Bedeutung des grünen Reisigs und des Kranzes erklärt hat – es war ihr wichtig, das Lebendige zu betonen, das Natürliche im Gegensatz zu allem, was erstarrt oder nur ein künstliches Blendwerk ist. Und sie hat den Kindern leidenschaftlich dargelegt, wie wichtig es ist, zur Ruhe zu kommen, zur Mitte, auch zu sich selbst. Dafür steht der Kranz. Wie es jedoch blöderweise sein musste, ist sie dann selbst zum Adventbeginn in eine ziemliche Hektik geraten – Kinder, Schule, Haushalt, Vereinstätigkeit, Pfarre. Nur ein paar Stichworte. Recht kurzfristig musste sie vor der abendlichen Adventkranzsegnung selbst noch einen Adventkranz besorgen. Während des Gottesdienstes blickte sie dann entspannt, alles noch rechtzeitig geschafft zu haben, auf ihren grünen Kranz. Beim genauen Hinsehen packt sie ein kleines Entsetzen, das sie mit Humor genommen hat: Ihr grüner Kranz war aus einem immergrünen Kunststoff. Plastik pur! Sie musste lachen. Hand aufs Herz: Wer kennt nicht das trostlose Getriebensein, das uns den inneren Frieden raubt und zu unsinnigem Verhalten drängt. Können wir den trostlosen Speed unterbrechen?

Trotz des Lockdowns, der uns heuer ein wenig runterholt, haben wir meist den Eindruck, dass die Zeit uns immer nur davonläuft. Wir hecheln hinterher wie ein Hund, der schon auf seine eigene Zunge draufsteigt. Wir haben Angst, etwas zu versäumen – angepeitscht von den Medien, von Werbung und News, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Vielleicht braucht es ein einfaches Umdenken: Betrachten wir die Zeit, wie sie uns entgegen kommt, stündlich, täglich – wie ein Geschenk. Zeit zum Träumen und Arbeiten, zum Aufstehen und Ruhen. Zeit zum Umarmen und zum Alleinsein. Versuchen wir mit unserer Lebens-Zeit adventlich umzugehen. Sie ist kein Beutegut – weder zum übermäßigen Vollstopfen noch zum Totschlagen. Die uns geschenkte Zeit ist kostbar – nicht dazu da, sinn- und ziellos im Kreis zu laufen. Der Kranz ist Hinweis auf die Mitte, die wir nicht verlieren dürfen.

Mein 2. Adventtipp: Einen Tag pro Woche Fernseh-frei oder Social-Media frei, um eine „Wir-Zeit“ zu gewinnen: Zeit für die Familie oder für einen Menschen, der in der Nähe ist. Auch Zeit zum Spielen.

  • Lässt sich „soziale Wachsamkeit“ lernen?

Der letzte Blick fällt auf die 4 Kerzen. Die erste haben wir heute entzündet. Mit jeder Adventwoche kommt eine weitere dazu. Dieses langsam wachsende Adventlicht ist jedoch nicht in erster Linie für eine schöne Atmosphäre zuständig – es soll uns als Menschen licht machen, uns innerlich ganz erfüllen, damit wir eine falsche Schlaftrunkenheit ablegen, die trübe Gleichgültigkeit und Verschlafenheit des Herzens. Wir müssen dem energischen Appell Jesu entsprechen: „Seid wach und haltet Euch bereit!“ Die eine Kerze wirkt angesichts der wuchtigen Aussagen des heutigen Evangeliums fast zaghaft:  Am Ende der Zeit werden alle Lichter ausgelöscht werden, Sonne und Mond werden sich verfinstern, alle Gewissheiten werden erschüttert. Die eindrucksvollen Bilder sind jedoch nicht weit hergeholt: Es gibt die persönlichen Katastrophen, die alles verdunkeln. Ich denke an den tödlichen Unfall gestern in Sillian – ein Familienvater beim Holzfällen mit seinen beiden Söhnen. Ja, viele Menschen gehen durch Nächte hindurch. Und es wird apokalyptisch dunkel, wenn kriegerische Auseinandersetzungen alles zerstören – denken wir an Äthiopien, an Berg Karabach, an Syrien. Ebenso wird es Nacht, wenn Misstrauen und Hass unser Zusammenleben prägen.

Jesus hat nicht gesagt: Seid möglichst misstrauisch, argwöhnisch und distanziert! Er hat auch nicht gesagt: Seid möglichst naiv und gutgläubig, nehmt alles für bare Münze, was man euch auftischt. Mit eindringlichen Bildern mahnt er uns zur Wachsamkeit: Verschlaft nicht den Augenblick. Begegnung jetzt! Niemanden übersehen! Ich möchte angesichts der Vorfälle in letzter Zeit auch von einer „sozialen Wachsamkeit“ sprechen. Wir müssen genauer Hinhören und Hinschauen auf das, was Menschen bewegt, was ihre Welt möglicherweise einstürzen ließ. Wir brauchen Geduld füreinander – nicht Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Wir brauchen das Advent-Licht der Aufmerksamkeit! 

Mein 3. Adventtipp: Jeden Tag 10 Minuten Stille wählen, bewusst 10 Minuten, um innerlich aufmerksamer zu werden für das, was uns selbst und unsere Welt bewegt. Ja, auch in der Lockdown-Phase gibt es einen Stille-Bedarf. Stille, die uns über alle Grenzen hinweg als Menschen verbindet.

Ich wünsche Euch allen Segen und Freude zum Advent, Grünkraft und Wachsamkeit!