Gottes Herzschlag in der Welt

Wortlaut der Weihnachtspredigt 2022 von Bischof Hermann Glettler im Dom zu St. Jakob in Innsbruck

Hinführung: „Er, der am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.“ Liebe Schwestern und Brüder! Wir feiern Weihnachten! Der Ursprung unseres Daseins, der tragende Grund von allem, was existiert und lebt, er ist nicht stumm geblieben, nicht unberechenbar. Gott hat sich selbst mitgeteilt, sich selbst – nicht nur eine Teilauskunft über sein göttliches Wesen gegeben, sondern sein Herz ausgeschüttet: Licht vom unerschaffenen Licht! Gott hat seinen einziggeborenen Sohn gesandt, sein „Herzstück“, um uns nicht im Dunkeln zu lassen. Das ist Weihnachten – trotz und gerade angesichts der vielen Schatten, Eintrübungen und Dunkelheiten, die unsere Welt gegenwärtig heimsuchen.

  1. Gottes Herzschlag wahrnehmen

„Voices of Life“ nennt sich eine von Samsung entwickelte App, die für das Überleben von Kindern auf der Frühgeburtenstation unendlich wertvoll geworden ist. Über ein Smartphone kann die Mutter von zu Hause ihre Stimme und ihren Herzschlag dem zu früh geborenen Kind übermitteln. Durch den Ton, der den Uterus simuliert, gewinnt das Kind den Eindruck, sich noch in der vertrauten Gebärmutter zu befinden. Die App kompen­siert das plötzliche Fehlen der mütterlichen Stimme sowie das Pochen ihres Herzschlags. Auch Lieder und andere Botschaften erreichen das kleine Wesen im Brutkasten. Die sensationelle App vermittelt mit dem stimulierenden Herzrhythmus eine Geborgenheit, nach der sich jeder Mensch sehnt. Auch wir Erwachsene.

Die Botschaft der Weihnacht erzählt von der Geburt Jesu in Betlehem – am geographischen und politischen Rand der römischen Weltmacht, leicht zu übersehen, scheinbar unbedeutend. Aber es gab die Zeugen, die aufgebrochen sind – einfache Leute und wohlhabende Gelehrte. Sie kamen und erkannten: Im Kind von Betlehem, in seinem menschlichen Herzschlag lässt sich Gottes Herzschlag vernehmen. Das ist Weihnachten! Inmitten der vielen verwirrenden und lauten Stimmen war plötzlich ein neuer, leiser Herzschlag zu vernehmen, ein göttlicher Lebenspuls, der jedes menschliche Begreifen übersteigt. Gottes Herzschlag bezeugt sein leidenschaftlich mitfühlendes Dasein, väterlich und mütterlich – leise, zärtlich, stark ohnmächtig zugleich.

  1. Die Ohnmacht ist die Tür zum Geheimnis

Im Advent gab es auch heuer eine Fülle an Benefizveranstaltungen, großzügiges Spenden und Wahrnehmen von Not, Hilfsbereitschaft und Solidarität. Und dennoch – vielleicht oft sogar versteckt in einem Benefiz-Aktionismus das offenkundige Gefühl von Ohnmacht. Was lässt sich denn tun, machen und helfen, wenn die großen Katastrophen scheinbar nicht zu stoppen sind? Die Vielzahl der Krisen ist kaum erträglich – vom Wahnsinn des Krieges und allen globalen Kollateralschäden, die millionenfaches Leid verursachen, bis hin zu persönlichen Schicksalsschlägen, die alles in Frage stellen.  Nichts tun können! Nicht helfen können. Und wir hätten so gerne Lösungen und Strategien, um die Welt zu verbessern – mit Recht! Das Unheilvolle auszuhalten fällt schwer. 

Vor kurzem habe ich einen älteren Mann im Wohnheim der psychiatrischen Klinik besucht. Er ist gebildet, belesen und mitteilungsbedürftig – doch seine Gedankenzüge sind wirr, überspannt, ebenso die Abgründe seiner belasteten Geschichte. Ich konnte nur bei ihm sitzen und zuhören. Ihm mit Erklärungen zu helfen, habe ich zu lange versucht. Ein unerwartetes Licht kam in unsere Begegnung als wir unseren Blick auf die Krippe seiner Kindheit richteten, die seine Schwester vorbeigebracht hat. Seite an Seite haben wir gestaunt und mir wurde klar: Jesus ist nicht als „Problemlöser“ gekommen, sondern als „Gott mit uns“. Er ist der Heiland in aller Heillosigkeit. Er hält die Ohnmacht mit uns aus. Vor allem Tun, Helfen und Verbessern – beschenkt er uns. Mit seiner Herzensenergie.

  1. Neue Herzensenergie aufnehmen

Gottes Herz schlägt ohne Unterbrechung – sein schöpferischer Puls geht hinein in den Kosmos, belebt und versorgt jeden Menschen und jede Kreatur. In den Heiligen Schriften wird vielfach bezeugt, dass Gottes Herzschlag mehr ist als ein diffuses kosmisches Hintergrundgeräusch, mehr als eine anonyme Kraft. Im Buch des Propheten Hosea heißt es: „Ich war da für sie wie eine Mutter, die den Säugling an ihre Wangen hebt. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen.“ (Hos 11,4) Gottes Herz schlägt in jedem geborenen und ungeborenen Menschen, in jedem gesunden und beeinträchtigten Körper, in jedem Menschen, der sich frei entfalten kann und in jedem, der leidet oder seine Heimat verlassen musste. Auch in der geschundenen Schöpfung schlägt Gottes Herz.

Und unser Herz? Am 21. Tag nach der Empfängnis beginnt es geheimnisvoll zu schlagen – ein winziges Schläuchen, das sich aufgrund von elektromagnetischen Impulsen zusammenzieht und wieder entspannt. Der Lebenspuls menschlichen Leben in seiner ersten Lebensphase! Ein Leben lang wird dieses Herz schlagen – für wen? Das ist die weihnachtliche Frage nach unserer Herzenshaltung. Der Herzschlag ist ein Ausdruck von Liebe, Verbundenheit und Anteilnahme, auch wenn man oft kaum etwas tun kann: Mit-Sein, Da-Sein, aufmerksam liebend – weihnachtlich! Der tröstende Puls Gottes inspiriert darüber hinaus jede Mühe um Versöhnung, Geduld und Menschlichkeit in unserer nervösen Zeit. Der Blick in die Krippe beschenkt uns mit neuer Herzensenergie: Licht vom Licht! 

Abschluss: In der Ungeborgenheit, die das Leben uns oftmals zumutet, gibt es einen verlässlichen Herzschlag, eine unüberhörbare „Voice of Life“. Auch wenn wir sie oft nur glaubend erahnen können, ist sie die eigentliche Lebens- und Liebeskraft, die uns innerlich erfüllt und erneuert. Der Herzschlag des menschgewordenen Gottes ist der entscheidende Puls für eine unzerstörbare Zuversicht.