Bischof Scheuer: Ho-ruck-Aktion hilft nicht

Die Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen bestimmen den diesjährigen Oster-Beitrag des Innsbrucker Diözesanbischofs Manfred Scheuer in der Tiroler Tageszeitung. Er fordert eine Wahrnehmungspflicht für das Leid anderer.

Die Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen bestimmen den diesjährigen Oster-Beitrag des Innsbrucker Diözesanbischofs Manfred Scheuer in der Tiroler Tageszeitung. Er fordert eine Wahrnehmungspflicht für das Leid anderer. Hier der Wortlaut des Artikels. 

Der Karfreitag ist ein Begriff und er ist auch bekannt über die Grenzen der Kirchenmauern hinaus. Man verbindet mit ihm Leiden und Krankheit, seelische und körperliche Qualen, Kriege und Katastrophen, Elend und Sterben. Ostern ist ein Fest, das zumindest in Bräuchen, Ess- und Kaufgewohnheiten noch im Bewusstsein breiter Bevölkerungsgruppen ist. Sicher: Für Christen gibt es keinen Kreuzweg, kein Kreuz ohne die Auferstehung. Der Übergang vom Karfreitag zum Ostermorgen ist aber kein Automatismus. Denn Ostern gibt es nicht billig. Nur wer die Trauer des Karfreitags und die bodenlose Sinnlosigkeit des Karsamstags aushält, darf auf den Ostersonntag hoffen.

Ich schreibe als Bischof der katholischen Kirche. In mir sind Beschämung und Betroffenheit durch Briefe und Gespräche, in denen mir Erfahrungen von Missbrauch und Gewalt in kirchlichen Einrichtungen mitgeteilt wurden. Diese Erfahrungen gehen oft lange zurück, sind aber meist sehr lebendig. Den Ekel bekommen viele nicht los. Lange, viel zu lange konnten die betroffenen Opfer nicht darüber sprechen oder sie wurden einfach nicht gehört.

Manche erwarten von der Kirche bzw. von einem Bischof jetzt den Befreiungsschlag oder das große Aufräumen. Im Nachhinein und aus heutiger Perspektive war am schlimmsten die Einstellung, sich mehr um die Täter kümmern zu müssen als um die Opfer. Was sich über Jahrzehnte in die Seele und in den Leib der Opfer eingraviert hat, was massiv deren Beziehungen und auch deren Sexualität beeinträchtigt hat, lässt sich nicht mit einer Horuck-Aktion gut machen. Und gerade im Bereich von Missbrauch ist es nicht so, dass Zeit einfach die Wunden heilt. Die Krise macht uns – hoffentlich – demütiger und bescheidener. Auferstehung und damit verbunden Heilung, Versöhnung und Gerechtigkeit für die Opfer, sind nicht einfach machbar. Strukturdefizite bzw. durchaus notwendige Reformen der Kirche machen vergangenes Unrecht nicht ungeschehen und greifen auch als Erklärung für Missbrauch und Gewalt zu kurz.

Die immer wieder geforderte „Kultur des Hinschauens“ ist nicht selbstverständlich und muss – in der Kirche und in der Gesellschaft – vielfach erst gebildet werden. Notwendig und notwendend sind Haltungen der Aufmerksamkeit, Ehrlichkeit und Ehrfurcht gegenüber dem konkreten Leiden. Viele Opfer erwarten, dass man ihrer Rede glaubt und dadurch die erlittene Erniedrigung aufhebt. Der Täter soll erfahren, was er angerichtet hat, und das Opfer eine Antwort darauf hören, was den Täter bewegt hat und weshalb gerade er oder sie zu leiden hatte. Und da gibt es viele blinde Flecken, Unempfindlichkeit und Vergesslichkeiten. Nicht selten werden die Lebensinhalte allesamt auf Unterhaltungsergiebigkeit getestet und die Wahrheit des Leidens der Opfer abgedrängt. Die Opfer kommen auch nicht mehr ausdrücklich in den Blick, wenn wir uns in der Kirche narzisstisch in den eigenen Problemen und manchmal auch in der Wehleidigkeit er­götzen. Jesus lehrt uns zu Ostern eine Mystik der offenen Augen und damit der unbedingten Wahrnehmungspflicht für das Leid anderer.

Vielleicht kann die Erfahrung der vergangenen Wochen helfen, Schuld und Verantwortung neu zu buchstabieren. Gegen ein Klima der Verdrängung, der Verharmlosung und der Wegrationalisierung des Bösen haben wir einem heimlichen Unschuldswahn zu widerstehen, der sich ausbreitet und mit dem wir Schuld und Versagen, wenn überhaupt, immer nur bei ‚den anderen’ suchen, bei den Feinden und Gegnern, bei der Vergangenheit, bei der Natur, bei Veranlagung und Milieu. Die Geschichte unserer Freiheit scheint zwiespältig, sie wirkt halbiert: die Erfolge, das Gelingen und die Siege unseres Tuns schlagen wir uns selbst zu; im übrigen aber kultivieren wir die Kunst der Verdrängung, der Verleugnung unserer Zuständigkeit, und wir sind auf der Suche nach immer neuen Alibis angesichts der Nachtseite, der Katastrophenseite, angesichts der Unglücksseite der von uns selbstbetriebenen und -geschriebenen Geschichte.

Die Kirche hat durch Missbrauch und Gewalt Schuld auf sich geladen. Schmerzhaft müssen wir das erkennen. Die entscheidende Frage ist nicht, wie wir uns in diesem Skandal schlagen, sondern wie wir mit Schuld umgehen. Und Vergebung lässt sich nicht erzwingen und schon gar nicht erpressen. Keine Versöhnung ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne den Schmerz der einholenden Wahrheit.

Morgen ist vom Kalender her Ostersonntag. Ich bitte um die Gabe der „österlichen Augen“ für alle Opfer kirchlicher Gewalt. Auf dass sie zu einer neuen Lebensqualität finden, einer Lebensqualität die von positiven Erfahrungen in Beziehungen und von Hoffnung geprägt ist. Ich bitte um die Gabe der „österlichen Augen“ für die Täter. Auf dass sie „schuldfähig“ werden und auch sie zu einem neuen Leben finden. Und ich hoffe, dass allen Christen österliche Augen aufgehen, sodass wir humaner umgehen mit Leid, Schuld und Verantwortung. Es ist eine „erdenschwere Hoffnung“ die von der Auferstehung Jesu ausgeht.

Manfred Scheuer, Bischof von Innsbruck

Bischof Scheuer: Ho-ruck-Aktion hilft nicht