Bischof Scheuer: Einen Schritt weiter helfen

Im Interview mit der Kirchenzeitung "Tiroler Sonntag" spricht Bischof Manfred Scheuer über den Missbrauch von Autorität und Sexualität.

In der aktuellen Ausgabe der Kirchenzeitung "Tiroler Sonntag" nimmt Bischof Manfred Scheuer zu den Missbrauchsfällen in der Katholischen Kirche Stellung. Es sei wichtig für die Kirche, hier Verantwortung zu übernehmen, so der Bischof. Aber auch Pauschalverurteilungen würden der Sache nicht gerecht.

 

Tiroler Sonntag: Es sieht aus wie bei einem Flächenbrand. Die Fälle sexuellen Missbrauchs und von schweren gewalttätigen Übergriffen in katholischen Internaten sind so zahlreich, dass längst nicht mehr von Einzelfällen gesprochen werden kann. Was ist Ihrer Meinung nach der Nährboden dafür? 

Bischof Manfred Scheuer: Jeder einzelne Missbrauch und jede Form von Gewalt ist anzuschauen, weil ein einzelner nie ein „Fall“ ist, weder das Opfer noch der Täter. Natürlich gibt es so etwas wie  Zeitströmungen, aber das enthebt die Täter nicht ihrer Verantwortung. Das erscheint mir auch  deshalb wichtig, weil es nicht so ist, dass kirchliche Internate flächendeckend gewalttätig waren. Es  hat diese Formen gegeben, ja. Und das ist sehr zu bedauern.  Die Abgründe in Menschen sind nicht einfach auszuloten. Nährboden für Gewalt und Übergriffe sind teilweise Erfahrungen von Zu-kurz- Kommen, Erfahrungen von Unrecht und Gewalt am eigenen Leib oder auch Erfahrungen von Krieg  und Diktatur. Aber diese haben die einen sensibler gemacht und die anderen härter bzw. brutaler.  Wenn ich mich an den Film „Das weiße Band“ erinnere: Das sind  Erfahrungen, die auch die heute 60- bis 70-jährigen Menschen noch kennen.  Gewalt oder Missbrauch werden dann ein Problem,  wenn die emotionalen Beziehungen verkümmern bzw. wenn der Beziehung keine freie Entscheidung zugrunde liegt. Man muss sich dann Befriedigung durch Machtausübung holen.

Sie waren selbst Schüler in einem kirchlichen Internat in Oberösterreich. Wie haben Sie im Rückblick diese Zeit erlebt? 

Der größte Teil der Lehrer, mit denen ich zu tun hatte, hat mit Respekt gegenüber uns Schülern  unterrichtet. Natürlich war die Pädagogik Mitte der 60er Jahre nicht auf der Höhe der jetzigen Zeit.  Aber um ein Beispiel zu nennen: Ich kann mich an keine einzige Situation erinnern, bei der einem  unserer Lehrer oder Erzieher etwa die Hand ausgekommen wäre. Natürlich wurde – wie damals üblich – strenge Disziplin eingefordert, die ich mir so nicht zurückwünsche. Und es gab Mitschüler,  die nach der Matura sehr unversöhnt von der Schule gegangen sind. Auch für mich gab es  Belastendes. Doch ich verdanke der Zeit im Internat auch sehr viel Gutes wie Freundschaften, die  ein Leben lang halten, und die Erinnerung an Lehrer und Erzieher, die mich positiv geprägt haben.  Gerade auch auf diesem Hintergrund wünsche ich mir  eine differenzierte Wahrnehmung.  Pauschalverurteilung und Generalverdacht werden den einzelnen Erfahrungen nicht gerecht. Es ist  wichtig, Verantwortung zu übernehmen, aber es ist nicht gerecht, pauschal alle in einen Topf zu  werfen.

Die Fälle von sexuellem Missbrauch und Gewaltmissbrauch durch Vorgesetzte betrifft zwei Bereiche in der Kirche, in denen sie seit Jahrzehnten schwer an Glaubwürdigkeit verliert: Sexualität und Autorität. Sehen Sie Zusammenhänge, sodass es nun gerade in diesen beiden Bereichen zu derart schwerwiegenden Missbräuchen gekommen ist? 

Ich glaube schon, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem, was jetzt an Vorwürfen an die  Kirche hochkommt, und einer Kränkung durch die kirchliche Sexualmoral. Kränkung insofern, weil zu wenig sensibel vermittelt wird, wie es nach Krisen und Scheitern weiter gehen kann. Und natürlich  sind die Ereignisse, die jetzt nach Jahrzehnten öffentlich werden, ein Grund darüber nachzudenken:  Wie schaut eine humane Sexualität aus? Und wie sind die Machtverhältnisse in der Kirche?  In anderen Bereichen scheint es mir wichtig, zum Beispiel gegen Kinderpornografie im Internet  vorzugehen. Dass man diese technisch und rechtlich nicht aus dem Internet nehmen kann, ist für  mich nicht nachvollziehbar. 

 

Es ist ein Anliegen von Papst Benedikt XVI., das Augenmerk in der Verkündigung hinzulenken auf die Schönheit des Glaubens und von daher für das Glaubenszeugnis zu begeistern. Trotzdem bleibt der Eindruck, dass  gerade in Fragen der Sexualmoral so viele Verbotstafeln aufgestellt sind, dass die Autos erst gar nicht wirklich zum Fahren kommen. 

Das Anliegen des Papstes, das Geschenk des Glaubens herauszustreichen, erreicht die Menschen nach meinem Eindruck nur wenig und wird kaum wahrgenommen. Die Mentalität ist in vielen Bereichen der Gesellschaft „gnadenlos“. Bei aller Kritik an der Moral sind sehr viele Menschen auf Leistung und Moral fixiert. Und auch Gott wird auf Moral reduziert – etwa in der Erziehung: Wenn Religion zu sehr in ein Erziehungssystem gepresst wird, kann sie nicht mehr als Freiheit erfahren werden. Und bezüglich der „Verbotstafeln“: Ich hielte es nicht für gut, alle Tafeln wegzuräumen oder die Moral insgesamt beiseite zu schieben. Denn hinter diesen Tafeln verbergen sich ja menschliche Erfahrungen, die Beziehung, Humanität und Familie schützen sollen. Gebote sind so etwas wie Fixsterne, die der Orientierung dienen. Dabei ist es nicht hilfreich, Ideale ohne die Lebbarkeit zu vermitteln.

Die gegenwärtig diskutierten Ereignisse ziehen das Glaubenszeugnis der Kirche insgesamt in Zweifel. „Wasser predigen und Wein trinken“, werfen viele der Kirche vor. Welchen Weg sehen Sie aus der Krise? 

Natürlich müssen wir überlegen, wo unsere Blockaden sind, und da müssen wir über Strukturen reden, über Sexualität, über den Zölibat, auch über Bürokratie. Es ist die Frage, was unsere Vitalitätskiller sind. Ob etwas glaubwürdig ist oder nicht, ob etwas als authentisch erlebt wird oder nicht, das habe ich selbst nicht so in der Hand. Allzu idealistische Vorsätze stürzen sehr schnell ab. Ich möchte versuchen, das vom Evangelium zu leben, was ich davon verstanden habe. Und das ist oft relativ wenig.  Mich beschäftigen die aktuellen Ereignisse stark. Doch so schwer die Krise auch sein mag: Ich möchte mich nicht davon lähmen lassen. Es geht hier nicht um die eigene  Befindlichkeit, sondern um die Menschen, die sich jetzt melden, dass wir diesen Menschen zuhören und ihnen – vielleicht – auch einen Schritt weiterhelfen. Da braucht es viel Sensibilität und da ist  wichtig, dass Menschen in sich selbst wieder Kraft und Zuversicht entdecken. Wunden kann man  dann besser anschauen, wenn man durch positive Erfahrungen von Beziehungen nicht mehr  ausschließlich darauf fixiert ist. Andere Erfahrungen von Gemeinschaft lassen den erlebten  Missbrauch nicht vergessen, aber anders sehen.

Medien und Werbung vermitteln gern den Eindruck vom Menschen als Supermann: Immer schön, immer fit, immer gut drauf. Jetzt kommt ein ganz anderes Menschenbild daher. Ist der Mensch böse? 

Es gibt in uns die Dimension der Versuchung und des Bösen. Das Böse ist so etwas wie das Gegenteil der Freiheit. Das kann man durchaus auch auf die Sexualität anwenden. Die Kirche hat im Umgang mit der Sexualität oft nur die Gelegenheit zur Sünde gesehen. Das war nicht gut, weil es übertrieben war und weil nicht die Schönheit von Sexualität vermittelt wurde. Gegenwärtig werden anderweitig die abgründigen Möglichkeiten von Sexualität thematisiert – und zwar nicht von der Kirche. Da wird deutlich, dass es im Bereich von Sexualität Dimensionen gibt, wo einander sehr weh getan werden kann.

Die Kirche steht nun – wie im Gleichnis vom Verlorenen Sohn – als jene da, die das Erbe verspielt hat. Worin sehen Sie Hoffnung? 

Der Grund meiner Hoffnung ist Gott selber, und diese Hoffnung ist unverbrauchbar.

Gibt es für Sie ein Hoffnungsbild zum Festhalten? 

Es ist das Wort Jesu: „Wer einem von diesen Kleinen auch nur einen Becher frisches Wasser zu trinken gibt, – Amen, ich sage euch: Er wird gewiss nicht um seinen Lohn kommen.“ (Mt 10,42).

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