Glettler: Christliche Identität nicht durch Abgrenzung aufbauen

Bischof Hermann Glettler im "Presse"-Interview: "Christliche Identität braucht Form und Inhalt. Sie darf nicht hohl sein". Mystik und Soziales, spirituelles und politisches Engagement gehören für Bischof Glettler zusammen.

Der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler begrüßt jede Rückbesinnung auf die eigenen christliche Identität im Land, aber: "Identität durch Abgrenzung von Anderen aufzubauen, ist gefährlich. Das führt meist zur Aggression", warnt der Bischof: "Wir gehören als Menschen zusammen. Und im Blick auf das Jubiläum der Menschenrechtsdeklaration gesagt: Jeder Mensch sollte überall auf dieser Welt die Möglichkeit haben, seine Religion frei zu wählen und auszuüben. Und christliche Identität braucht Form und Inhalt. Sie darf nicht hohl sein." Glettler äußerte sich im Interview mit der Tageszeitung "Die Presse", das am Sonntag, 23. Dezember, erschienen ist.
Zur Frage, wie christlich Österreich noch sei, antwortete Glettler: "Das kann niemand sagen. Es gibt das explizite christliche Bekenntnis, das auch wieder junge Menschen begeistert. Auch das tiefe Grundwasser des Humanen, das sich ebenso außerhalb der institutionalisierten Religion zeigt, ist etwas ganz authentisch Christliches." Er staune oft, "wie achtsam Menschen leben und wie berührbar sie für andere sind. Gott geht mit jedem Menschen einen persönlichen Weg".
Sein Amtsverständnis sei es, "Bischof mit, im und für das Volk Gottes zu sein", so Glettler weiter. Er wolle "ganz selbstverständlich am Leben der Menschen teilnehmen, um die Relevanz der christlichen Botschaft wieder aufleuchten zu lassen". Denn "ohne den Pulsschlag des Evangeliums wäre unser Leben um vieles ärmer. Wir brauchen diese spirituelle Kraft, die über Jahrhunderte unsere Gesellschaft geprägt hat."
Das Christentum trage in sich die Kraft, eine rein innerweltliche Logik zu unterbrechen. Glettler: "Die zentrale Botschaft ohne Verfallsdatum lautet: Der einzelne Mensch ist wertvoll, egal wie seine Biografie aussieht und was er für die Gesellschaft leisten kann." Ebenso wichtig sei die mystische Tiefe des christlichen Glaubens, die lebendige Verbindung zu Jesus Christus. "Dieser Gott in Menschen-Gestalt ist in jeder konkreten Person präsent. Daraus ergibt sich eine solidarische Verbundenheit, die keine nationalen Grenzen kennt", untrstrich der Bischof. Christliche Spiritualität sei nicht weltabgewandt, sondern weltzugewandt. "Mystik und Soziales, spirituelles und politisches Engagement gehören zusammen."
Liturgie ist keine "gestaltungsoffenen Bastelstube"
Auf Liturgie und Brauchtum angesprochen hob Glettler deren Bedeutung hervor, "damit sich im spirituellen Innenraum, im Bewusstsein und in der Seele des Menschen etwas entfalten kann". Liturgie müsse jedoch etwas Lebendiges bleiben, "darf nicht den Charakter einer gestaltungsoffenen Bastelstube bekommen". Das Leben und das Lebensgefühl der Menschen müssten im Gottesdienst der Kirche einen Widerhall finden. Die heutige pastorale Arbeit und Seelsorge müssen sich auf den Inhalt konzentrieren: "Geht die Botschaft zu Herzen? Folgt daraus eine Konsequenz für die Lebensgestaltung der Menschen? Eine zeitgemäße Predigt muss die wesentlichen Fragen anschärfen und eine Spur der Antwort aufzeigen. Die Antwort liegt im Entgegenkommen Gottes, in seiner Barmherzigkeit, die uns in eine herausfordernde Schule nimmt."
Der Bischof ermutigte weiters zu einem bewusst einfachen Lebensstil: "Angesichts der überfordernd vielen Angebote, bewusst nicht bei allem mitzumachen. In der getriebenen Übergeschäftigkeit zu sagen: Ich leiste mir mehr Frischluft für die Seele. Ich leiste mir eine angebliche Zeitverschwendung für Menschen, die mich brauchen. Ich leiste mir ein kritisches Wort, wo alle schon verdächtig mitklatschen." Das Subversive des Christentums sei seine solidarische Kraft. Und vor allem biete der christliche Glaube Nahrung für die Seele. Glettler: "Wenn man die Seele verhungern lässt, hat man keine Spannkraft mehr, sich den großen und kleinen Herausforderungen des Lebens zu stellen."
Den "Speckgürtel aufbrechen"
Zur religiösen Grundfrage nach Gott sagte der Bischof, dass auch die besten Naturwissenschaftler sagen, "je mehr sie erforschen umso geheimnisvoller wird das Ganze. Das gilt für die Beschaffenheit der Materie im Kleinsten und für die unfassbaren Dimensionen des Kosmos insgesamt. Was ist letztlich Energie und woher kommt sie? Was ist Leben und warum gibt es Leben?" Es gebe viele gute Gründe, anzunehmen, "dass es eine Energie hinter allem gibt, die wir als unendliche Liebe oder als Gott bezeichnen", so der Bischof: "Wir Christen glauben, dass sich diese geheimnisvolle Kraft in der Gestalt des Jesus von Nazareth in die menschliche Geschichte für immer eingeschrieben hat." Jeder könne sich nun entscheiden zu sagen: "Ich glaube an diesen Jesus und dass sich mit ihm der Himmel geöffnet hat. Oder ich kann sagen: Das ist nur eine gute Erzählung, vielleicht ein Mythos." Auch ihm seien Fragen eines kritischen Menschen nicht fremd: "Ich habe den Glauben auch nicht fertig in der Hand."
Es gehöre zu einem reifen Glauben, "dass man auf dem Weg ist, auch verwundbar bleibt und sich nicht über jene erhebt, die nicht glauben können". Glaube sei nicht nur eine intellektuelle Anstrengung, sondern eine Antwort des ganzen Menschen auf die wesentlichen Fragen." Man könne sie zulassen oder auch abwürgen, so der Bischof: "Wenn ich ein Bild verwenden darf: Wir haben uns einen Speckgürtel zugelegt, der uns alles erlaubt und uns gleichzeitig scheinbar gegen alles absichert. In dieser eingebildeten Souveränität rutscht Gott aus unserem Bewusstsein und Herzen weg. Manchmal muss dieser Speckgürtel aufgebrochen werden - durch einen Schicksalsschlag oder durch ein beschämendes Schuldig-Werden, damit Gott wieder wahrgenommen wird." 

Bischof Glettler: Identität durch Abgrenzung aufbauen zu wollen, ist gefährlich und führt zu Aggression.