Nachlese: Geistvolle Assistenz für das Leben

Predigt von Bischof Hermann Glettler zum 85. Geburtstag von EB Alois Kothgasser und zur Eröffnung der „Woche für das Leben“, 29. Mai 2022, Basilika Wilten

Einleitung: Der 85. Geburtstag von EB Alois Kothgasser und die Eröffnung der „Woche für das Leben“ 2022 fallen passend zusammen. Das Leben besonders in seinen vulnerablen Phasen zu schützen, ist eines der Herzensanliegen meines geschätzten Vorvorgängers. Alois Kothgasser SDB wurde am 29. Mai 1937 in St. Stefan in der Oststeiermark geboren. Durch einen jungen Kaplan kam er mit der Salesianischen Spiritualität und Pädagogik in Berührung. Am 9. Februar 1964 wurde er in Turin zum Priester geweiht. Sein Doktoratsstudium absolvierte er in Rom und lehrte dann dort an der Salesianer-Universität bis 1982. Es folgten Professuren in Benediktbeuern, wo er auch viele Jahre Rektor an der Hochschule der Salesianer war. 1997 wurde er zum Bischof von Innsbruck ernannt und am 23. November 1997 geweiht. Zum Leidwesen unserer Diözese erfolgte bereits nach 5 Jahren ein Ruf nach Salzburg. Als Erzbischof war er zumindest noch für einen kleinen Teil Tirols zuständig. In seinem Ruhestand kehrte er 2014 wieder nach Tirol zurück, lebte bei den Don Bosco Schwestern in Baumkirchen und ist ein geschätzter seelsorglicher „Assistent“ – wo auch immer er gebraucht wird.

 

1. Im Assistenzeinsatz für junge Menschen – Zukunft ermöglichen 

Assistenz ist ein wichtiges Schlüsselwort in der Spiritualität Don Boscos und in seiner „Pädagogik der Vorsorge“. Er schrieb 1884 ((Rombrief): „Der Erzieher sei allen alles! Er sei immer bereit, die Zweifel und jegliche Klage der Jugendlichen anzuhören. Er sei ganz Auge, um wie ein Vater über ihr Verhalten zu wachen.“ Das Wort Assistenz leitet sich von lat. „assistere“ ab und bedeutet „sich hinstellen, sich zeigen, beistehen, unterstützen, behilflich sein, dienen“. Schon diese Aufzählung macht Lust für ein Leben im Dienst an jungen Leuten. Alois Kothgasser hat diese Pädagogik der Vor- und Fürsorge seines Ordensgründers innerlich verstanden. Sein Leben hat er als einen „Assistenzeinsatz“ gelebt, überall mit einer geistvoll bescheidenen, begleitenden Anwesenheit. Durch aktives Hinhören, Hilfeleistung und Förderung bildete er viele Jugendliche zu verantwortungsbewussten Menschen heran. Er „assistierte“ ihnen und hat damit Zukunft ermöglicht. Lieber Alois, damit bist Du jugendlich geblieben – auch wenn Du heute Deinen 85-er feierst! Dein vielfältiger Assistenzeinsatz inspiriert uns.

 

Immer noch gilt für Dich das Motto Don Boscos: „Hier auf Erden sollt ihr arbeiten, ausruhen könnt ihr im Himmel noch genug.“ Im Rückblick auf Deine Innsbrucker Zeit nur ein paar Stichworte: Die Notburga-Gemeinschaft von betenden und sozial engagierten Frauen wurde von Alois Kothgasser im Jahr 2000 kanonisch errichtet. Besonders herausfordernd war das Unglücksjahr 1999 mit dem Unglück am Berg Isel und der Lawinen-katastrophe in Galtür. Neben Trauer und Leid gab es auch verletzende Schuldzuweisungen. In dieser Situation leistete der Bischof einen wesentlichen Beitrag zur Versöhnung. Eine ernstgemeinte Ökumene, ganz in der Tradition von Reinhold Stecher, war für ihn ein weiteres Herzensanliegen. So wurde die Versöhnungsfeier zum Gedenken an die Vertreibung der Protestanten aus dem Defereggental ein wichtiges Ereignis. In der Zeit von Bischof Alois wurde auch der Arbeitskreis für die Pastoral mit Homosexuellen gegründet (DAHOP). Integration gelebt!

 

2. Die Wahrheit in Liebe tun – auch im Widerstand 

Wir haben heute in der Lesung vom geistvollen Zeugnis des Märtyrers Stephanus gehört. Der erste Diakon der Kirche hat mit Freimut und Überzeugungskraft gepredigt. Es war für ihn ein Dienst an der Wahrheit. Mit seinem sozialen Einsatz und mit seinen theologisch fundierten Reden hat er bezeugt, dass in der Person des Jesus von Nazareth der Himmel für alle Menschen offensteht. Das war Frohe Botschaft für viele, aber auch eine höchst gefährliche Provokation für die führenden Persönlichkeiten seiner Zeit. Stephanus hat den Preis dafür bezahlt. Er wurde für sein unerschrockenes Auftreten gesteinigt. Der biblische Bericht fordert uns heraus: Wie gelingt es heute, inmitten einer pluralen Gesellschaft mi der Botschaft Jesu für die Wahrheit Zeugnis abzulegen – nicht nur theoretisch, sondern auch im konkreten Handeln. Wahrheit kann und muss lebendig bezeugt werden. Am Thema Lebensschutz ist für EB Alois vieles sehr konkret geworden: Er hat einen Fonds für schwangere Frauen eingerichtet, ein Mutter-Kind-Haus für Schwangere in Not initiiert und 2006 erstmals eine „Woche für das Leben“. In einem solchen Rahmen findet am 1. Juni ein spannendes Ethikforum statt.

 

„Die Kirche muss den Stimmlosen ihre Stimme leihen und eine klare und festen Bekräftigung des Wertes des menschlichen Lebens und seiner Unantastbarkeit als leidenschaftlichen Appell im Namen Gottes an alle und jeden Einzelnen richten: Achte, verteidige, liebe das Leben, jedes menschliche Leben, und diene ihm!“ So eindeutig hat der emeritierte EB im Hirtenbrief 2005 Stellung bezogen und im Jahr 2007 eine Ehrung des Landes Salzburg abgelehnt, weil Abtreibungsambulanzen an den Landeskliniken eingerichtet wurden. Für den widerständigen Bischof und für uns alle ist klar, dass uns kein Urteil über Frauen zusteht, die einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen haben. Wir müssen jedoch alles tun, um die unantastbare Würde des menschlichen Lebens zu verteidigen und Frauen in Konfliktschwangerschaften zu unterstützen. Es geht um „Perspektiven der Hoffnung, der Ermutigung und des Vertrauens.“ Der aktuelle Film „Lass uns reden“ greift dieses Anliegen auf.

 

3. Der Einheit dienen – auf den Geist vertrauen 

Ich persönlich habe EB Alois als junger Priester kennengelernt. Er war mir in seiner umgänglichen Art sympathisch und auch mit seiner bodenständigen Spiritualität. Dieser sein Glaube hatte für mich Herzschlag-Qualität. Nicht nur mir, sondern vielen ist bewusst geworden, dass für Bischof Alois Stille und Gebet die eigentlichen Quellen sind – auch das verlässliche, fürbittende Gebet für Arme und Notleidende. In Erinnerung ist seine herzhafte Einladung an Pfarren, regelmäßige Anbetungszeiten einzuführen und weiterhin zu pflegen. Ich unterstreiche dieses Anliegen, weil wir in unserer nervösen Zeit noch entschiedener zur Mitte finden und aus ihr leben müssen. Reinhold Stecher lobte neben seiner menschlichen Art den „theologischen Tiefgang“ seines Nachfolgers Alois Kothgasser: „Der Hl. Geist schenkt uns Hausverstand, bewahrt vor Engführungen und Extremen, religiösem Überschwang und falschem Traditionalismus. Der Heilige Geist ist der Zündfunke der schöpferischen Kirche. Ich bin so froh, dass mein Nachfolger auf dieser Schiene fährt, dass er ein Pneumatologe ist.“

 

Wir durchleben als Kirche und Gesellschaft heute sehr viele Spannungsfelder. Eines sei benannt: Auf der einen Seite ist mit Recht Individualität, Selbstbestimmung und Freiheit großgeschrieben – und auf der anderen Seite braucht es die Sorge für den Zusammenhalt, für Gemeinschaft und eine gelebte Verantwortung füreinander. Das Ich und das Wir in Balance – wie geht das? Nicht umsonst betet Jesus im heutigen Evangelium mit größter Leidenschaft, „dass sie alle eins sein mögen!“ Damit ist nicht nur kirchliche Ökumene herausgefordert. Es ist ein sensibles Gesellschaftsthema: Sowohl hochgezüchtete Egoismen als auch Gleichschaltungen von Meinungen sind gefährlich. Der Hl. Geist, der uns verheißen ist, schafft eine doppelte Anwaltschaft – sowohl für den einzelnen Menschen mit seinen individuellen Erfahrungen und Nöten, als auch für die Gemeinschaft, die immer neu zu stärken ist. Wir brauchen viel Hl. Geist, um Einheit und Vielfalt ineinander zu verschränken. Vor allem brauchen wir einen neuen Herzschlag für Frieden und Zusammenhalt in Europa und in der Welt.

 

Abschluss: Zur christlichen Berufung im Sinne des Hl. Don Bosco gehören Freude, Familiengeist, Weltoffenheit, Hellhörigkeit für die Anliegen der Jugend, Gottverbundenheit, Bodenständigkeit und noch vieles mehr. Zum Geburtstag wünschen wir Dir, lieber EB Emeritus, die Fülle dieser Gaben und Haltungen, die Dich ohnehin immer ausgezeichnet haben. Dass Du akkurat jetzt nach Salzburg zurückgehst und in einer einfachen Wohnung im Priesterseminar Dein Domizil aufschlagen wirst, stört uns ein wenig. Aber wir lassen Dich ziehen – in Gottes Namen und großer Dankbarkeit!

Erzbischof emeritus Alois Kothgasser SDB zelebrierte gemeinsam mit Bischof Hermann an seinem 85. Geburtstag. foto: Cincelli/dibk.at