Neu geboren - mitten in der Nacht

In seiner Weihnachtspredigt nahm Bischof Hermann Glettler Bezug auf Textstellen des Weihnachtsliedes "Stille Nacht, heilige Nacht". Die gesamte Predigt lesen Sie hier im Wortlaut.

Die unauslöschbare Faszination von Weihnachten ist eine Tatsache, die uns jährlich überrascht. Trotz aller Zugriffe der Geschäftemacherei, der Verkitschung und Banalisierung, und trotz des ernüchternden Verlustes vom eigentlich religiösen Sinn. Weihnachten ist ein Fest der Sehnsucht – nach Licht, nach Nähe, nach Beheimatung, nach Gemeinschaft – und in all dem verdeckt vielleicht auch ein Fest der Sehnsucht nach Gott. „Stille Nacht, Heilige Nacht“, das bekanntlich am Heiligen Abend in Oberndorf in Salzburg vor 200 Jahren zum ersten Mal angestimmt wurde, antwortet auf diesen breiten Fächer menschlicher Sehnsucht. Es ist ein Glaubenslied, das durch Zillertaler Sängerfamilien in die Welt hinaus getragen wurde – mit Recht seit 2011 von der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe gesichert. Folgen wir der inhaltlichen Spur dieses populären, aber nicht weniger mystischen Liedes, in der Reihenfolge, wie sie 1844 durch Johann Wichen festgelegt wurde.

Stille Nacht, Heilige Nacht – bei Gott zur Ruhe kommen (1. Strophe)

Die Nacht ist ambivalent. In ihr beruhigt sich der Lärm des Tages. Manchmal kommt es zu Momenten des Staunens und der Dankbarkeit. In der Nacht kann aber auch eine Flut von bedrängenden Sorgen aufschlagen. Es kommen Ängste hoch, die wir trotz einer eleganten äußerlichen Performance in uns tragen – die Ängste zu versagen und den Anforderungen eines extrem beschleunigten und vielfach optimierten Lebens nicht mehr zu entsprechen. „Atemlos durch die Nacht“ (Helene Fischer) beschreibt ein Lebensgefühl von Generationen, ein aufgepeitschtes Unterwegssein – auf der Suche nach einem Plus an Erlebnis, Zugehörigkeit und einem unstillbaren Hunger nach Liebe.

Das faszinierende Weihnachtslied besingt die Nacht von Betlehem und die vielen Nächte, denen Menschen ausgesetzt sind. Jesus wurde in der Nacht geboren, in einer Notunterkunft am Stadtrand, ausgesetzt und gefährdet. Er teilt damit das Schicksal von Millionen Umhergetriebenen und Flüchtenden, die den langen, traumatisierenden Nächten preisgegeben sind – auf der Suche nach Schutz und Heimat. Jesus teilt das Schicksal auch mit jenen, die für andere wach sein müssen. Einsam wacht das „traute heilige Paar“ – verbunden mit Eltern, Personen in Sozial- und Pflegeberufen und vielen anderen, die auch in der Nacht im Einsatz sein müssen.

Gott hat durch sein Kommen die Nacht geheiligt. Sein Dasein lässt uns innerlich zur Ruhe kommen. Seine Gegenwart tröstet. Jesus ist da! Gott ist da! In aller Zerstreuung und nächtlichen Umtriebigkeit kann das Herz bei ihm zur Ruhe kommen. Die nervöse Seele findet einen Frieden, der alles Begreifen übersteigt. Auch in der „Nacht des Glaubens“, in der Unsicherheit von ungelösten Fragen, im Nichtbegreifen Gottes – weil er Nächte zumutet – gibt es plötzlich eine gott-volle Stille Nacht.

Hirten erst kundgemacht – neu geboren werden im Geist (2. Strophe)

„Hirten erst!“ Shepherds first! Den Beduinen, die sich auf dem Feld in der Nähe von Betlehem aufhielten, wurde „zuerst kundgetan“ das Wunder aller Wunder, die Menschwerdung Gottes. „Der Engel des Herrn stellte sich zu ihnen und die Herrlichkeit des Herrn umleuchtete sie“. Gott selbst wird zum Beistand der Armen, die sich nichts auf ihre eigene Tüchtigkeit und Tugendhaftigkeit einbilden. Strahlende Gegenwart Gottes – mitten auf dem freien Feld, Arbeitsplatz und Wohnort armseliger Existenzen. Verständlich, dass sie in eine „mega-große Furcht“ gerieten. In ihrer Reaktion spiegelt sich das Erschrecken vor Gottes Gegenwart. Sie wurde laut verkündet „durch der Engel Halleluja“.

Gott überrascht die sehnsuchtsvoll Wartenden mit seinem göttlichen Licht. Das ist sein Geist, seine Herzensenergie – damals und heute unberechenbar ausgegossen in die Herzen aller Menschen. „Das wahre Licht kam in die Welt“ heißt es im Weihnachtsprolog des Evangelisten Johannes. „Und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ Der Geist Gottes ist stärker als alle widergöttlichen Energien. Die dunklen Mächte des Hasses und der Verachtung des Menschen müssen vor dem unfassbaren Licht des Himmels weichen. Der Geist Gottes tröstet und versöhnt. Er heilt die uralten Wunden und schafft neues Leben. „Allen, die ihn aufnahmen, gab er die Macht, Kinder Gottes zu werden.“

Im 200 Jahre alten Glaubenslied, das in einer politisch und sozial unruhigen Zeit komponiert wurde, geht es also weniger um einen historischen Bericht der biblischen Ereignisse, sondern um ein Neugeboren werden hier und heute. „Christ, der Retter ist da!“ in allen, die sich Gott nicht verschließen, kommt Jesus heute zur Welt! Er will geboren werden inmitten einer vom Wohlstand ermüdeten und innerlich alt gewordenen Gesellschaft. Allen, die ihm Raum geben, werden zu Geburtshelfer für eine neue Welt – es sind Menschen, die Lebensfreude vermehren, weil sie nicht mehr ängstlich um sich selbst besorgt sind. Der Geist hat sie zu Liebenden gemacht.

 

Lieb aus deinem göttlichen Mund – das rettende Eingreifen Gottes (3. Strophe)

„Stille Nacht“ – das populär-mystische Lied betrachtet in jeder Strophe das „himmlische“ Kind. Obwohl es kein Wunschkind war und in keinem tollen Ambiente zur Welt kam, erobert es unser Herz. „Oh wie lacht, Lieb aus deinem göttlichen Mund.“ Das Kind blickt uns an. Die alles belebende Liebe, die wir Gott nennen, in Person. Versuchen wir, diesen Blick auszuhalten. Von einem Neugeborenen geht keine Gewalt aus, kein raffiniertes Geschäftsinteresse, nur absichtslos, „lachende“ Liebe.

Aus dem „göttlichen“ Mund des erwachsenen Jesus werden Worte kommen, die ebenso Ausdruck dieser Liebe sind: „Geh, auch ich verurteile Dich nicht! Selig, die arm sind vor Gott! Selig die Nicht-Gewalttätigen! Fürchte dich nicht! Steh auf!“ Es sind Worte und Sätze, die trösten und aufrichten. Es sind Worte von Gottes Barmherzigkeit im O-Ton Jesu. Seine Worte und Taten sind heilsam – gerade in unserer „tribunalisierten Gesellschaft“ (U. Körtner), in der wir uns daran gewöhnt haben, einzufordern und anzuklagen, auf das Versagen und die Defizite mit ungeheuerlicher Leidenschaft hinzuweisen. Was also vermag die Liebe, die in der Krippe ein kindlich strahlendes Gesicht hat?

Die Liebe vermag alles. Sie ist die eigentlich rettende Macht. In der Menschwerdung Gottes schlägt uns „die rettende Stund“. Die Zeit hat seit damals eine andere Qualität. Sie hat ihre bittere Leere verloren. Sie ist erfüllt mit der Gegenwart des unendlich Liebenden, denn Gott ist Liebe! Zuvorkommende, wartende, hörende, umarmende Liebe. Sie zählt im gegenwärtigen Augenblick und in der Bilanz am Ende des Lebens. Nur die Liebe! Paulus schreibt sinngemäß im berühmten Hymnus des Korintherbriefes: „Wenn ich alle Begabungen und Kompetenzen hätte, extrem erfolgreich wäre und ein Vorbild in frömmster Askese, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nur lärmendes Blech.“

 

Jesus umschloss die Völker der Welt – eine neue Geschwisterlichkeit (4. Strophe)

In der vierten Strophe des Liedes, das uns in diesen Tagen weltweit verbindet, wird die universale Bedeutung der Weihnacht besungen. In der ursprünglichen Textfassung von Joseph Mohr aus dem Jahr 1816 heißt es: „Als Bruder huldvoll umschloss Jesus die Völker der Welt!“ Der Allmächtige Gott hat sich zum „Bruder" aller Menschen gemacht. Mit ihm und durch ihn sind wir überall auf dieser Welt – unabhängig von ethnischer und kultureller Zugehörigkeit – Schwestern und Brüder.

Der Ausdruck „die Völker der Welt“ schließt niemanden aus. Für alle ist Christus auf die Welt gekommen. Für alle! Nicht nur für eine bestimmte Gruppe von Gläubigen oder nur „für uns Christen“, wie es oft in einer frömmelnden Bescheidenheit heißt. Für alle! Das Ereignis von Betlehem gehört der ganzen Menschheit. Die Kirche ist mit Jesus in ihrer Mitte eine solidarische Weg-Gemeinschaft, die in innerer Verbundenheit alle einschließt. Das ist die soziale und solidarische Dimension des Weihnachtsfestes – es hat eine innere Weite, die in der „väterliche Liebe“ Gottes ihren Ursprung hat. Teilen wir mit allen die Freude der Weihnacht! Stille Nacht, Heilige Nacht!