Silvesteransprache von Bischof Manfred Scheuer

Die Sprache verrät dich - so lautet der Titel der Silvesteransprache vom 31. Dezember 2014 von Bischof Manfred Scheuer, die Sie hier im Wortlaut lesen können.

Deine Sprache verrät dich 

 

Wort des Jahres 2014:situationselastisch

Unwort:Negerkonglomerat

Spruch des Jahres:jetzt hat uns die den Schaas gewonnen

Unspruch des Jahres:Das ist nicht jeden Freitag

Jugendwort:Selfie1

 

Sünden der römischen Kurie 

Am 22. Dezember hielt Papst Franziskus die traditionelle Weihnachtsbotschaft an die römische Kurie. Mindestens 15 Krankheiten und „Sünden“ hat er ausfindig gemacht: Hochmut, Narzissmus, Ambitionen, Oberflächlichkeit, Insensibilität, Kalkuliertheit, Rache, Launen, Stolz, Geltungssucht, Schizophrenie, Sittenlosigkeit, Gerede, Verleumdung, Hofschranzentum, Karrierismus, Gleichgültigkeit, Geiz, Egoismus, Exhibitionismus, Machthunger. Sogar Alzheimer fehlte nicht im päpstlichen Befund, wenn auch im Sinne von „spirituellem Alzheimer“. – Ist das nicht irgendwie auch die Bilanz des Papstes für das Jahr 2014? Diese Diagnose hat viele erfreut: Warum? Weil endlich einer das sagt, was wahr ist? Weil die kritisiert werden, die sonst kritisieren, aber selbst von niemandem beurteilt werden wollen? Weil endlich mit denen abgerechnet wird, die Ursache von Stillstand sind? Oder: Gott sei Dank, die sind auch nicht besser, auch nicht perfekt? Vielleicht auch: Wenn wir das Sagen hätten, dann hätte der Papst diese Probleme nicht. Hoffentlich schickt er sie bald in die Wüste…

 

Facebook und Persönliches 

„Es war ein tolles Jahr. Danke, dass du ein Teil davon warst.“ Mit diesen Worten präsentiert Facebook seinen Nutzern dieser Tage automatisch generierte Jahresrückblicke, in denen die 2014 am häufigsten kommentierten und mit „Gefällt mir“ versehenen Postings angezeigt werden. In den USA hat Facebook den Jahresrückblick eines Mannes mit dem Bild seiner heuer verstorbenen Tochter eingeläutet. Unter dem Titel „Unbeabsichtigte algorithmische Grausamkeit“ thematisiert der Vater das Thema: Er sei sich natürlich bewusst, dass es sich um keine „bewusste Beleidigung“ Facebooks handle, es war trotzdem unfreundlich, mich so gewaltsam daran zu erinnern.

Wie sieht mein persönlicher Jahresrückblick aus? Was steht da im Vordergrund? Die Top 7 Suchanfragen im Netz: 1. Fußball WM, 2. Conchita Wurst, 3. iPhone, 4. Michael Schumacher, 5. Robin Williams, 6. Ebola, 7. Donauinselfest. Die Kriege in der Ukraine, im Irak und in Syrien (IS und Jesiden), in Libyen und Nigeria (Boko Haram), der Nahostkonflikt und in Afghanistan, die Hungerkatastrophen z.B. im Südsudan und die Naturkatastrophen wie Erdbeben, Hurrikans, Überschwemmungen kommen bei den Suchanfragen zumindest nicht vorne vor. Auch nicht der Kampf gegen die Armut und für eine bessere Verteilung des Wohlstands… Und was ist mit der äußerst angespannten Situation der christlichen Minderheiten im Nahen und Mittleren Osten?

Was sind die bewegendsten, schönsten, skurrilsten, spannendsten und ausgefallensten Momente des vergangenen Jahres? Was waren die Höhepunkte der vergangenen zwölf Monate? Was war besonders wichtig, (be)merkenswert, politisch entscheidend?

Jene, die den Tod eines geliebten Menschen durchleben, lange Zeit im Krankenhaus verbringen, einen Jobverlust beklagen oder durch andere Krisen gehen mussten, möchten vielleicht nicht noch einmal auf das vergangene Jahr zurückschauen.

Jozef Niewiadomski schreibt im Schlusspunkt des Tiroler Sonntags zum 1. Jänner 2015: „Der 4. Dezember 1999 hat den vertrauten Alltag der Familie völlig umgekrempelt. Eine der Töchter wurde beim Bergiselunglück niedergetrampelt. Die Hoffnung, dass sie aus dem Wachkomaerwacht, erfüllte sich nicht. Sabine wurde 15 Jahre lang von ihren Eltern gepflegt. Gewickelt und umgedreht. Eltern, Schwester und Bruder sprachen mit ihr, sangen ihr vor. … Sabine ist am Stephanitag gestorben. Was die Familie geleistet hat, können Worte nicht beschreiben. Die Hingabe, die immer wieder an die Grenze des Erträglichen gelangte, ist eines der ausdrucksstarken Zeugnisse der Gegenwart der göttlichen Liebe in unserer Welt dar.“ (28)

 

Freudenreiche Erfahrungen 

Am Ende des Jahres 2014 können wir die „freudenreichen“ Ereignisse und Geheimnisse des eigenen Lebens betrachten: Es gibt Sternstunden des Lebens, die wir nie vergessen. Da sind Taborstunden, Erfahrungen des Glücks, der Lebensfreude, der intensiven Beziehung, die zu uns gehören. Solche Erinnerungen sind Anker der Hoffnung; sie geben Zuversicht auch in dunklen Stunden und lassen nicht verzweifeln. Persönlich bewegend war für mich der letzte Besuch bei Hermann Nagele einige Tage vor seinem Tod. „Was kann ich mittragen?“ war seine Frage nach der Begrüßung. – Wir können noch einmal den Augenblick nach erleben, in dem wir uns tief geliebt fühlten oder tiefe Freude empfanden. An der Schwelle zwischen den Jahren 2014 und 2015 kann der Dank für die eigenen Fähigkeiten, Begabungen, für den Beruf und für die Arbeit stehen, verbunden mit dem Lob unserer Lebenswelt, unserer Beziehungen, unserer Freundschaften und Gemeinschaften. Das ist eine Möglichkeit, Gott in allen Ereignissen des Lebens, in den vergangenen und gegenwärtigen, zu finden.2 „Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt uns dies gleichsam entgegen. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen. Wir erleben sie nicht durch bis zu dem Punkt, an dem sie aus Gott hervorströmen. Das gilt für das Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, liebende Antwort.“ (Alfred Delp)

Ich möchte Vergelt’s Gott sagen für die ehren- und hauptamtliche Arbeit im Bereich der Caritas, der Vinzenzgemeinschaften und des Sozialen, in den Pfarrgemeinden, in den Vereinen und Verbänden, in der Kultur und auch in der Politik. Danke sage ich auch für den Kirchenbeitrag und für alle finanziellen Spenden. Vergelt’s Gott sage ich allen, durch die die Grundvollzüge der Kirche in unserer Diözese leben, die Verkündigung und die Liturgie, die Caritas und die Gemeinschaft, die Mission, die Sendung: Ich danke den Priestern und Ordensleuten, die manchmal schon alt und müde treu ihren Dienst tun, den PastoralassistentInnen und ReligionslehrerInnen. Danke dem Generalvikar, den Amtsleitern und allen MitarbeiterInnen in den diözesanen Ämtern. Ich danke den vielen Unbekannten, die in ihrem Umfeld „Nahversorger der Solidarität“ sind, als Mütter und Väter, als Großeltern, Arbeitskollegen, Vereinsmitglieder, Arbeitsgeber. Viele sind unerkannt und auch unbedankt Tag und Nacht für die Ihren und für die Nachbarn da. Ich danke auch den Vordenkern und Verantwortlichen, die besonnen und verbindlich dieses Land mit tragen. Ich danke Müttern und Vätern, die Kinder zur Welt bringen und uns damit bereichern.

 

Schmerzhafte Ereignisse3 

Es gibt aber auch die schmerzhaften Ereignisse und Geheimnisse des Lebens im Jahr 2014, Erfahrungen des Kummers, der Beleidigung, der Furcht oder Bitterkeit, Niederlagen und Blamagen. Viele Menschen tragen in ihrem Herzen Wunden aus der Vergangenheit, die noch nicht verheilt sind. Vielleicht spüren sie die schwärenden Wunden im Laufe der Zeit nicht mehr. Doch die schädliche Wirkung der unverheilten Wunde bleibt bestehen. Zum Beispiel fühlt sich ein Kind beim Tod der Mutter von Kummer überwältigt. Oder ein Freund hat deine Gefühle tief verletzt. Diese Wunde bewirkt einen Groll, der lange in dir schwelt und die echte Liebe, die du für diesen Freund empfindest, in Mitleidenschaft zieht, so dass die Freundschaft erkaltet. Es kann auch hier hilfreich sein, zu den Ereignissen, die diese negativen Empfindungen in dir hervorgerufen haben, zurückzukehren, damit ihre schädliche Wirkung aufgehoben werden kann. Das Jahr 2014 ist nicht fertig. Was ist noch unheil, unversöhnt? Die Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung ist groß: Wie kommen Mama und Papa wieder miteinander aus? Wie können die Kriegsschauplätze im Kleinen und im Großen befriedet werden? Wie kommen wir mit den Nachbarn und Kollegen halbwegs zusammen? Aber auch: Wir suchen nach einem turn around, einem Gesinnungswandel im Umgang mit Flüchtlinge, Asylanten und Fremden.

 

Kirche im Jahr 2014 

Zum „Sonntag der Völker“ thematisiert die Kirche die Flüchtlingsfrage. Die Bischöfe fordern Solidarität und Öffnung möglicher Flüchtlingsunterkünfte. „Jegliche Form von Fremdenangst oder Fremdenhass ist mit christlichem Glauben unvereinbar“. Papst Franziskus redet im EU-Parlament: Europa muss die christlichen Wurzeln seiner Identität, „seine gute Seele“, wiederentdecken. Die Religion ist für den Kontinent nicht nur das fundamentale Erbe einer 2.000-jährigen Vergangenheit, sondern biete auch die Grundlage für seine künftige soziale und kulturelle Entwicklung. Franziskus fordert zudem eine gemeinsame Strategie der EU-Staaten zur Bewältigung der Flüchtlingsproblematik an den Südgrenzen des Kontinents.

Die Ordensgemeinschaften Österreich präsentieren ihre Aktivitäten zum „Jahr der Orden“. Eckpunkte sind u.a. Akzente unter dem Motto „Mittwoch ist Ordenstag“, die Initiative „sie BITTEN/wir BETEN“, ein Videowettbewerb, ein Kalender mit Ordensfesten und die Website www.jahrderorden.at. Und die Ordensgemeinschaften sind in der Bekämpfung des Menschenhandels engagiert.

 

In der Diözese Innsbruck gab es die Reise nach Israel unter dem Motto „Aufbrechen zur Quelle“. Eine große Herausforderung waren die Jugend- und Jungschartournee sowie die Konzilstage, die in alle Regionen unserer Diözese führten. Einen bleibenden Eindruck hat das „Pilgern zu Dom“ zum Jakobusfest am 25. Juli hinterlassen. „Wechselnde Pfade, Schatten und Licht. Alles ist Gnade, fürchte ich nicht.“ Haben wir gesungen. Den 6. August, der Tag der Diözesanerhebung, feierten wir gemeinsam mit unserer Mutterdiözese Brixen. Ein Höhepunkt war sicher das Diözesanfest am 20. September, bei dem die Buntheit und Vielfalt unserer Diözese zum Ausdruck kam. Im September startete der „Soziale Herbst“, bei dem ein ganz starker Akzent für die Caritas im Bereich Armut, Not und Sucht gesetzt wurde und noch immer wird. Und der Gottesdienst am 8. Dezember, dem Tag der Amtsergreifung durch Bischof Paulus Rusch vor 50 Jahren, war ein besonderer Abschluss. Ich glaube, wir haben durchaus eine vitale Kirche erfahren, eine lebendige und auch eine junge Kirche, nicht so alt und müde wie es manche gerne hätten. Das Jahr 2014 war in der Kirche und in Tirol im Nacheinander und Ineinander eine Zeit mit hoffnungsvoller Aussaat und eine Zeit der Ernte einerseits. Es war ein Weg durch blühendes Land, ein Jahr des Jubels und des Dankes. - Aber 2014 war auch ein Jahr der Dürre, ein Weg durch Nacht und Wüste. Der Weg der Heilung und Versöhnung mit den Opfern von Missbrauch und Gewalt in der Kirche ist nach wie vor ein steiniger. - Ich empfinde es nach wie vor als Wunde und als Niederlage, dass wir die Gruppe, die privat Messe simuliert hat, nicht zum Umdenken bewegen konnten. – Sehr nachdenklich stimmt mich die Nachwuchssituation in den kirchlichen Berufen, in den Ordensgemeinschaften und im Priesterseminar.

Zeugen vollziehen mit Jesus die Solidarität mit den Menschen in der Zeit mit und gehen nicht auf Distanz. „Die Mystiker lehnen die Ruinen, die sie umgeben, nicht ab. Sie harren dort aus. … Nicht etwa weil sie mit dem Niedergang sympathisierten. Sondern weil diese heruntergekommenen Orte die tatsächliche Lage des Christentums ihrer Zeit repräsentierten. Eine durch Umstände bedingte, aber gewollte Solidarität mit dieser kollektiven Misere zeigt den Ort einer Verwundung an.“4

 

Vom Frust oder von der Lust Kirche zu sein 

Papst Franziskus spricht in Evangelii Gaudium vom „geistlichen Wohlgefallen, Volk zu sein.“ (Nr. 269) „Das Wort Gottes lädt uns auch ein zu erkennen, dass wir ein Volk sind: ‚Einst wart ihr nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk‘ (1 Petr 2,10). Um aus tiefster Seele Verkünder des Evangeliums zu sein, ist es auch nötig, ein geistliches Wohlgefallen daran zu finden, nahe am Leben der Menschen zu sein, bis zu dem Punkt, dass man entdeckt, dass dies eine Quelle höherer Freude ist. Die Mission ist eine Leidenschaft für Jesus, zugleich aber eine Leidenschaft für sein Volk.“ (Nr. 268)5Verhalten ist in diesem Jahr die Freude an der Kirche, das Wohlgefallen, Gottes Volk zu sein, gewachsen. Und auch nicht mit Horuck geht eine Aufbruchsstimmung, verbunden mit der Bereitschaft, nahe am Leben der Menschen zu sein, missionarisch das weiter zu geben, was uns selbst geistlicher Lebensreichtum geworden ist. Für die Spuren dieser Freude an der Kirche, für die Zeichen des Aufbruchs und der Hoffnung bin ich sehr dankbar.

 

Kommen ruhigere Tage? 

Das Jahr 2014 ist keine Versicherung für die Zukunft, aber eine Herausforderung zur Hoffnung, nicht irrational, sondern zu einer aktiven, einer tätigen Hoffnung. Zuversicht ist ein anderer Name für Hoffnung. „Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont.“ (Ingeborg Bachmann) Alle unsere Jahre sind eine gestundete Zeit. Sie sind uns von Gott geliehen oder, wie Nichtglaubende zu sagen pflegen, vom Schicksal eingeräumt. Wir brauchen dringend starke Allianzen von Menschen, die einen ziemlich unegoistischen Idealismus und einen intelligenten Realismus miteinander verbinden (Bischof Egon Kapellari).

Hoffnung wird von Charles Peguy mit einem Kind verglichen: kleines Mädchen Hoffnung.6 Es ist schwach und daher verletzbar. Es ist aber zugleich stark durch seinen Charme. Hoffnung kann enttäuscht werden und wird auch oft enttäuscht. Und doch lassen Menschen dieses Kind Hoffnung immer wieder in ihr Leben ein, weisen es nicht so ab, wie das Jesuskind von den Herbergswirten in Betlehem abgewiesen wurde. Hoffnung ist ja ein Lebensmittel. Man braucht viel davon, damit das Leben nicht verkümmert. Christliche Hoffnung zielt auf Jesus Christus als Punkt Omega der Weltgeschichte.

Manfred Scheuer, Bischof von Innsbruck 

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Diözese Innsbruck - Aktuell