Prof. Niewiadomski: Zuspruch in einer Zeit der Skandale

In einer Predigt macht Prof. Jozef Niewiadomski aufmerksam: Bei aller Kritik an der Kirche dürfen Priester, kirchliche Mitarbeiter und Gläubige nicht vergessen, wofür sie arbeiten: nicht für die Kirche, sondern für Gott.

Feuer und Flamme - in einer Zeit der Skandale
Eine Predigt vom Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, Prof. Jozef Niewiadomski, gehalten in der Innsbrucker Jesuitenkirche 

 

Da gibt es eine jüdische Geschichte über einen Rabbiner, der schon länger alles andere als Feuer und Flamme für seinen Gott ist. Ich möchte der Geschichte katholische Kleider überziehen, sie auch ein wenig modernisieren - also ins 21. Jahrhundert versetzen, und sie zuerst in jenem Land verorten, von dem sich unsere Trendsetter inspirieren lassen, und an dessen Moden und Trends sie sich nicht satt saugen können: im Wunderland Amerika.

Der Pfarrer - zwar noch im besten Manageralter, aber schon längst an der Grenze zum "Burnout" - kommt mit seiner Gemeinde und mit sich selbst nicht mehr ganz zu Rande. Schon wieder fällt der wöchentliche Krankenhausbesuch - so etwas machen nämlich amerikanische Pfarrer noch - dem Terminkalender zum Opfer. Sonntagnachmittag wird das schlechte Gewissen dann doch noch übermächtig. Pflichtbewusst schleppt sich der Pfarrer ins Krankenhaus. Nach einer Stunde verlässt er das Gebäude mit einem Gefühl tiefster Frustration. Alles bloß verlorene Zeit! Zwei seiner Pfarrmitglieder, die er besuchen wollte, wurden am Samstagnachmittag entlassen - vermutlich tief enttäuscht, dass er sie nicht besucht hatte. Ein anderer schlief, und der Pfarrer traute sich nicht, den Schlafenden zu wecken. Beim Vierten war das Zimmer mit Besuchern voll; kaum hatte der Pfarrer das Zimmer betreten, hatte er schon das Gefühl, im Grunde unerwünscht und überflüssig zu sein. Schlussendlich landete er bei einem Nörgler, der ihm 20 Minuten lang zum x-ten Mal seine Wehwehchen erzählte. - "Sie brauchen mich doch nicht, im Grunde bin ich überflüssig, vergeude meine Zeit. Das Leben funktioniert bestens auch ohne mich und ohne meine Arbeit: ohne Pfarrer und die Religionen". Fluchend geht der Pfarrer zur Parkgarage, vorbei an einem Bürohochhaus. Vor dem Haus steht natürlich ein Wachmann in Uniform. Pflichtbewusst grüßt der Officer. Der Pfarrer bleibt stehen und spricht den Mann an: "Hey, Mann, es ist doch Sonntag! Das Bürohaus ist leer und geschlossen. Wieso stehen Sie eigentlich da? Wem nützt das? Für wen arbeiten Sie?". "Ich werde dafür bezahlt, hier zu stehen, und schon weil ich hier stehe - so glaubt man halt - wird kaum jemand das Gebäude beschädigen. Ich bin froh, dass ich den Job habe, und die anderen sind froh, dass es mich gibt, auch wenn man auf den ersten Blick sagen könnte: Der da ist doch überflüssig, den sparen wir ein. Aber was machen Sie eigentlich hier? So förmlich gekleidet, im Anzug? Es ist ja, wie Sie selbst sagten - Sonntagnachmittag. Für wen arbeiten Sie?", entgegnet der Officer. Der Pfarrer will schon halb sarkastisch antworten: Ich arbeite für den Papst, für den Bischof. Er will schon den Namen seiner Gemeinde nennen. Doch dann besinnt er sich, zieht seine Visitenkarte heraus und sagt: "Da haben Sie meinen Namen und meine Telefonnummer. Ich zahle Ihnen zehn Dollar die Woche dafür, dass Sie mich jeden Montag in der Früh anrufen und mich fragen, für wen ich arbeite, wofür ich mich einsetze und wofür ich bezahlt werde".

Liebe Schwestern und Brüder, so paradox es klingen mag, wie viele Priester, wie viele MitarbeiterInnen in den Pfarren, wie viele Ehrenamtliche in unserer Kirche würden gerne zehn Euro pro Woche zahlen, damit ihnen jemand hilft, zu vergessen, für wen sie arbeiten. Sie leiden an der Kirche, wie man an einem schmerzenden Zahn leidet. Man weiß zwar, dass jede Berührung mit der Zunge einen neuen Schmerzanfall hervorruft, und doch berührt man die schmerzende Stelle immer wieder. Und warum leiden sie?

Einstmals stellten sie den Inbegriff dessen dar, was man als Feuer und Flamme der Begeisterung für Gott und seine Sache nennen kann. Begeistert engagierten sie sich, sie glaubten begeistert und begeisternd - burning persons eben. Doch wie ist es heute, in einer Zeit, in der die Kirche landauf, landab unter Generalverdacht steht? In einer Zeit, in der sich das Bild des sinkenden Schiffs, von dem selbst die Ratten flüchten, nicht nur an den Schaltstellen öffentlicher Meinungsmacher festsetzt, sondern unser alle Phantasie beherrscht und das Spektrum unserer religiösen Wahrnehmung einengt? Kirche - Was fällt uns zu diesem Thema ein? Die pädophilen Priester und die Bischöfe, die alles zu vertuschen suchen oder sich neuerdings gebetsmühlenartig entschuldigen? Die Kirchenaustrittszahlen? - Das ist doch Schnee von gestern! Wer glaubt schon an die Zukunft der Kirche? Bei den Bischöfen, bei den Priestern, bei dem Mangel an Priestern? "Erinnere mich also bloß nicht daran, dass auch ich die Kirche bin, oder dass auch ich für diese Kirche arbeite!"

So oder ähnlich sieht heute das katholische Selbstbewusstsein aus. Der gesunde Stolz auf eine Gemeinschaft, die mir bei aller Brüchigkeit selbstverständlich eine Heimat im Glauben sei, dieser gesunde Stolz ist in den letzten Jahren in unseren Breitengraden zerbrochen. Wir: die Katholiken haben die Achtung vor unserer Kirche verloren. Wir nehmen bloß das Dornengestrüpp menschlicher Tüchtigkeit wahr, nicht aber die lodernde Flamme göttlicher Liebe. Wir stürzen uns auf die abgebrochenen und vertrockneten Zweige des kirchlichen Dornenbuschs, weil diese den Flächenbrand des Skandals in der Öffentlichkeit entfachen. Wir nehmen bloß das Versagen wahr - oder gar das Verbrechen in unseren Reihen - und verdrängen das erlösende Feuer göttlicher Barmherzigkeit, jener Barmherzigkeit, die allein die Sackgassen menschlicher Zerrissenheit sprengen kann, jener Barmherzigkeit, die allein das lodernde Feuer menschlicher Höllenqualen auslöschen kann: diese Scheiterhaufen, die wir uns permanent selber errichten, indem wir uns selbst in unserem Selbsthass steinigen, oder aber wenn wir auf andere Steine werfen und diese Tätigkeit mit dem Hinweis auf Recht und Gerechtigkeit legitimieren.

Kirche - das sei bloß ein Verein unter vielen, ein Arbeitgeber unter vielen, eine Institution unter vielen, im Grunde überflüssig, gar ein Krebsgeschwür der Gesellschaft - wie die Mafia. Zerbrochen ist der gesunde Stolz auf die Gemeinschaft, die uns Heimat im Glauben bleibt.

Liebe Schwestern und Brüder, zufällig fiel mir vor ein paar Tagen eine der Geschichten des liebevollen Skandalklassikers des Abendlandes - aus dem ‘Decamerone’ von Boccaccio - in die Hände. Dort ist die Rede von zwei Freunden: der eine ist ein glühender Katholik, der andere ein Jude. Der Katholik, der Inbegriff dessen, was man Feuer und Flamme nennt, möchte mit seinem jüdischen Freund seinen größten Schatz - seinen Glauben - teilen. Stundenlange Gespräche und Auseinandersetzungen führen fast zu einer intellektuellen Konversion. Eines Tages sagt der jüdische Freund zu seinem katholischen Kameraden: "Im Grunde wäre ich bereit, der Kirche beizutreten. Bevor ich es tue, möchte ich aber nach Rom reisen und schauen, ob sie dort das leben, was du mir so erzählst und auch predigst. Am Leben dieser Kirche möchte ich ihre Glaubwürdigkeit prüfen". Dem katholischen Freund bleibt der Mund vor lauter Schrecken offen. Zu gut weiß er, was in Rom vor sich geht: Korruption, Nepotismus, Völlerei und Hurerei tagtäglich, und die Prälaten sind ganz vorne mit von der Partie. Die Verblüffung des Katholiken kennt aber keine Grenzen, als der von Rom zurückgekehrte Freund ihm seinen Entschluss, sich taufen zu lassen, mit diesen Worten offenbart: "Eine derart schlechte Institution, eine Institution, in der es so viel an Missmanagement und so viel an Sünde gibt, eine solche Institution kann doch nicht eine rein menschliche Erfindung sein. Da muss Gott seine Finger im Spiel haben!", sagt der Jude und lässt sich taufen. Nicht der Tugend wegen, sondern wegen des Übermaßes an Versagen, das er an der Kirche wahrgenommen hat.

Warum der Verweis auf diesen Klassiker? Ironisch gesprochen macht Boccaccio seine Leser auf jenen entscheidenden Punkt aufmerksam, der den einzig wichtigen Unterschied ausmacht, und der die einzig richtige Antwort auf die Frage des Wachmanns vor dem amerikanischen Hochhaus ermöglicht: "Für wen arbeiten Sie?". Der Pfarrer stutzt ... und möchte zehn Dollar die Woche zahlen, damit er jeden Montag - nach dem sonntäglichen Frust - daran erinnert wird, dass er letztendlich für Gott arbeitet, sich für Gott einsetzt und nicht bloß für jene Menschen, die ihn anscheinend nicht brauchen, ihn meiden oder gar feindlich anschauen. Denn nur aufgrund dieser Selbstvergewisserung kann der außer Atem Geratene doch noch wenigstens stückweise Feuer und Flamme sein.

Diese Logik verbindet den Pfarrer mit dem Juden der Geschichte aus "Decamerone", und sie verbindet beide mit Mose, der burning person par excellence in der Heilsgeschichte. Sie alle finden zum Glauben, weil sie Gott selber als Feuer und Flamme erleben. Sie erleben Gott als Feuer und Flamme für die unterdrückten Menschen, für Menschen, die an ihre Grenze gestoßen sind und an dieser Grenze zerrieben werden. Weil sie Gott als Feuer und Flamme erfahren, können sie selber zu Feuer und Flamme für andere werden; und dies obwohl sie - oder gerade deswegen - selber auch Versager sind - hin und wieder gar zu Rechtsbrechern werden. Denn auch das Leben von Mose war vom Versagen und von Sackgassen geprägt. Schon der Beginn seiner Karriere glich einer Katastrophe: Er wollte Gutes, doch Böses kam. Weil er seinem geschlagenen Landsmann helfen wollte, ist er selber zum Totschläger geworden und musste deswegen auch fliehen - Hals über Kopf. Dieser Mensch von unbeherrschtem Temperament auf der einen Seite und von einer Haltung des Zögerns und Zweifelns auf der anderen Seite! Nichts, was menschlich, ja allzu menschlich ist, war ihm fremd. Er stellte Gesetze auf und war selber oft Gesetzesübertreter. Da ist die aussagekräftige Geschichte über die Moabiterin. Beim Durchzug durch das Land Moab stellte Mose das Gesetz auf, die Männer dürften die Moabiterinnen nicht einmal anschauen, weil er von der Schönheit und dem Reiz dieser Frauen gehört hatte. Der Erste, der das Gesetz brach, war Mose selbst. Er schaute sich nicht nur um, sondern er fiel tief in die Sümpfe der Reize und Gelüste. Nichts was menschlich ist, war ihm fremd, auch nicht die fehlende Anerkennung und auch nicht die Enttäuschung über jene, für die er sich einsetzte. Er führte sie aus der Sklaverei in die Freiheit, doch sie beklagten sich, dass die Freiheit zu unbequem sei. Er speiste sie in der Wüste, und sie beklagten sich, dass das Menü zu einfach, zu wenig abwechslungsreich sei. Warum aber gab er nie auf bei diesen Evaluationsergebnissen? Er gab nicht auf, weil er sich immer und immer wieder vergewisserte, für wen er eigentlich arbeitete und in wessen Diensten er stand. Er stand in den Diensten dessen, der selber Feuer und Flamme für uns Menschen ist - für jeden Einzelnen von uns. Er arbeitete für jenen Gott, der zu ihm sagte: "Ich bin da, ich bin bei Euch! Deswegen könnt Ihr Euch nie derart schlecht aufführen, dass Ihr mich aus Eurer Mitte vertreibt!".

Liebe Schwestern und Brüder, gerade in einer Zeit, in der unsere Öffentlichkeit nur das kirchliche Dornengestrüpp wahrnimmt und dieses Dornengestrüpp immer wieder mit dem Feuer des Skandals lichterloh entzündet, gerade in dieser Zeit ist es wichtig, uns zu besinnen und uns zu fragen, für wen wir arbeiten, für wen wir leben und uns engagieren. Für jenen Gott, der Feuer und Flamme ist für die Menschen: für die Menschen, die in Not geraten sind, für jene, die in den Sackgassen des Lebens feststecken. Nur wenn wir diesen Gott Feuer und Flamme sein lassen in unserem Leben (im Leben eines jeden Einzelnen von uns), im Leben unserer Kirche, wird der vermeintliche Schnee von gestern zum lebensspendenden Wasser für morgen werden!

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