Henri Boulad: 'Europa ist die Seele abhanden gekommen'

Im Rahmen einer Vortragsreise ist der ägyptische Mystiker Henri Boulad auch zu Gast in Tirol gewesen und hat zwei Vorträge im Haus der Begegnung in Innsbruck gehalten. Boulad zeigt sich überzeugt, dass die Kiche und Europa eine spirituelle Erneuerung...

Nach Überzeugung des ägyptischen Jesuiten und Mystikers Henri Boulad ist Europa "die Seele abhanden gekommen". Die Europäer hätten seit dem Erlangen von Frieden und Wohlstand nach dem Weltkrieg "kein zentrales Projekt" und "keine Vision, nichts,
wofür es sich zu kämpfen lohnt", so die Diagnose des erfolgreichen Buchautors und Vortragsreisenden, der bis 1995 Leiter der Caritas Ägypten und Vizepräsident des Caritas-Weltverbandes "Caritas Internationalis" war.
Boulad bezeichnete es in einem Interview für die aktuelle Ausgabe der Kärntner Kirchenzeitung "Der Sonntag" als bedauerlich, dass sich die Kirche ausgerechnet während dieses Sinnvakuums in der Krise befinde. Dabei liege das Problem weit tiefer als in den zutage getretenen Missbrauchsfällen. Der Glaube sei für die Menschen in
Europa nicht mehr wichtig, in die Kirche hätten sie das Vertrauen verloren: "Das ist die Tragik. Ich würde sagen: Europa ist ein spirituelles Entwicklungsland."
Der Kirche empfahl Boulad einen "vollständigen Kurswechsel" hin zu mehr Flexibilität und Kreativität, um den vorhandenen Durst der Menschen nach Mystik und letztlich nach Gott besser stillen zu können. Derzeit scheine die Kirche "blockiert", "sie stemmt sich
gegen jede Änderung". Hätten internationale Großkonzerne wie Sony oder Coca Cola ähnliche Probleme, würden sie längst einen Beraterstab engagieren und ihre Strategie um 180 Grad ändern, so Boulad im Gespräch mit "Sonntag"-Chefredakteur Gerald Heschl.
Es braucht spirituelle Erneuerung
Der Mystiker weiter: "Wir haben die Schätze unserer Spiritualität in eine Kiste gesteckt und bewahren sie in einem tiefen Keller." Auch suchende Menschen fänden schwer Zugang und wendeten sich esoterischen Bewegungen zu, statt die reiche christliche Tradition
zu entdecken. Mystik in der katholischen Kirche kann laut Boulad aber "niemals ein kleiner esoterischer Zirkel sein". Mystik sei vielmehr die "Wiederentdeckung des Heiligen im täglichen Leben".
Als Beispiel für gelungenes "Aggiornamento" von Spiritualität nannte Boulad eine von ihm kürzlich besuchte Gemeinde, in der ein eigener Ritus eingeführt wurde, um die erste Arbeitsstelle von Jugendlichen zu feiern. Statt sich auf die sieben Sakramente zu beschränken, gelte es neue Riten zu erfinden, "die den Menschen heute nahe
gehen", regte der ägyptische Jesuit an. Die Kirche solle sich darum bemühen erlebbar zu machen, dass Menschen in der Lage seien, im täglichen Leben Gott zu erfahren. "Wenn man heute von Mystik spricht, denkt jeder an mehrere Wochen in der Wüste", beschrieb Boulad eine verbreitete Engführung.
Ohne eine spirituelle Erneuerung werde es nicht gelingen, die Menschen in die Kirche zurückzuholen. "Was wir brauchen, sind echte Propheten, die fähig sind, den Menschen die Wahrheit zuzumuten und sie zu bewegen, dass sie ihren Schrebergarten verlassen", betonte
Boulad.
Kritik aus Liebe zur Kirche
Das Bemühen um eine neue Vielfalt im kirchlichen Leben könne von jedem Christen ausgehen, schon einzelne könnten viel bewirken. Angst vor der "political correctness" oder aber vor kirchlichen Autoritäten sei dabei fehl am Platz. Boulad berichtete von seinen
vielen Begegnungen mit Bischöfen, "die wissen, dass ich progressiv denke. Aber sie akzeptieren das, weil sie wissen, dass ich die Kirche liebe." Dies sei "der Grund, warum ich so eisern für sie kämpfe", sagte Boulad.
Seine Überlegungen über das Christentum und Europa legt Henri Boulad in seinem jüngsten Buch "Sturm und Sonne" (Otto Müller Verlag, 2010) dar: Christus sei ein "Stein des Anstoßes in Europa" geworden, der vielen entfremdenden Phänomenen der heutigen Lebenswelt
entgegenstehe. Die Notwendigkeit einer grundlegenden Kirchenreform hat Boulad auch in einem heuer veröffentlichten persönlichen Brief an Papst Benedikt XVI. unterstrichen, in dem er für die Einberufung einer Generalsynode auf der Ebene der Weltkirche plädiert, um Wege aus der Krise zu suchen.  

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