Familien sind Lernorte in einer nervösen Zeit

Ein Interview mit Familienbischof Hermann Glettler zum Auftakt des Weltfamilientreffens am 22. Juni 2022 in Rom.

Herr Bischof, Sie sind nun seit zwei Jahren Referatsbischof für Ehe, Familie und Lebensschutz in der Österreichischen BischofskonferenzAngesichts des Weltfamilientreffens diese Woche steht besonders die Familie im Mittelpunkt. Wie steht es derzeit um die Familie? 

Das lässt sich nicht pauschal sagen. Vielfach gut, aber auch sehr herausgefordert. Die Sehnsucht nach einem gelingenden Familienleben ist ungebrochen – sowohl bei jungen Leuten lange vor einer Eheschließung als auch bei Paaren, die schon lange verheiratet sind. Dass die Herausforderungen groß sind, ist offensichtlich. In der Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig Familien und familiäre Gemeinschaften sind. Sie waren emotionale Zufluchtsorte, mit Home-Office und Home-Schooling auch Arbeitsplatz, Krankenstation und vieles mehr – Familien leisten sehr viel, oftmals unbemerkt und unbedankt von der Öffentlichkeit.

Welche Aufgaben und Herausforderungen der Familie nehmen Sie als Bischof und Seelsorger besonders wahr, und welche Fragen beschäftigen heute die Familien besonders? 

In den Familien schlägt alles auf, was aktuell unsere Gesellschaft herausfordert - viel Nervosität und Unsicherheit, Sehnsucht nach Glück, aber auch Zerstreuung. In den Familien wird ganz selbstverständlich füreinander gesorgt, aber es gibt auch das Zerbrechen von Familien, nicht selten auch Aggression und Gewalt. Die Mehrfachbelastung von Beruf und familiärem Alltag, die Pflege von Angehörigen, und jetzt noch die wirtschaftlich schwieriger werdende Situation – Stichwort Teuerung – sind große Herausforderungen. Zugleich nehme ich einen stärkeren Willen speziell bei jungen Paaren wahr, mehr auf die eigene Lebensqualität zu achten und in die Beziehung als Paar zu investieren. 

Mit welchem Bild würden Sie die Rolle beschreiben, die dabei der Kirche zukommt? 

Sie muss möglichst lebensnah Familien begleiten, ermutigen, Hilfestellungen anbieten – einfach Interesse zeigen an deren konkreter Lebenssituation. Schon bei der Eröffnungsveranstaltung ist deutlich zum Ausdruck gekommen, dass die Kirche dort sein muss, wo die Nöte der Menschen sind. Wir dürfen nicht von Idealvorstellungen ausgehen, sondern vom Leben, so wie es uns aktuell herausfordert.

Wie gut gelingt es der Kirche derzeit, dieser Aufgabe nachzukommen? Wie äußert sich die Unterstützung der katholischen Kirche in Österreich für die Familie konkret? 

Es gibt eine Fülle von Angeboten für Familien in den einzelnen Diözesen, dazu eine breite Palette familienpastoraler Aktivitäten vom Katholischen Familienverband und von Gemeinschaften, die ein spezielles Charisma für Familien haben. Es gibt kirchliche Beratungsstellen für Familien und Paare, und vor allem gibt es die Pfarren. Sie sind trotz vieler Schwierigkeiten doch die spirituellen „Nahversorger“ für Familien in ihrem konkreten Lebensumfeld. Auf www.jahrderfamilie.at/angebote findet sich eine reiche Palette von Aktivitäten von, für und mit Familien.

Welche Bedeutung hat die Familie für die Kirche und für die Glaubensweitergabe heute? 

Eine sehr große. Als Gesellschaft und Kirche müssen wir auf Familien achten, um zukunftsfit zu bleiben. Es braucht ein deutliches Ja zur Unterstützung von jungen Familien, vermutlich auch mehr Kreativität, um den Schatz unseres Glaubens zugänglich zu machen. Es gibt zum Glück viele pfarrliche Initiativen – Kleinkinder-Gruppen, Kinder- und Familiengottesdienste, Familienfeste u.v.m.. Unsere Bemühungen um Glaubensvermittlung im Religionsunterricht an Schulen, in der Erstkommunionvorbereitung, in der Firmvorbereitung sind nur dann nachhaltig, wenn es zumindest eine minimale Resonanz für den Glauben in den Familien gibt. Diesbezüglich ist viel Selbstverständliches weggebrochen. Es nützt jedoch nichts,  darüber zu klagen. Konkrete Hilfestellungen sind wichtig, wie z.B. „Familien feiern Feste“, eine Sammlung von Impulskarten für die Feste im Kirchenjahr, die im Vorjahr von der Familienplattform der Katholischen Aktion herausgegeben wurde. Wir können nur fördern und ermutigen – und mit Freude das Jetzt-Mögliche tun.

In welchem Maß sind Familien Akteure kirchlichen Geschehens?  

Ich habe angeregt, in den neu gewählten Pfarrgemeinderäten unbedingt die Stimmen der Familien, auch der Alleinerziehenden einzubringen. Da müssen wir dranbleiben. Auch jene Paare und Familien, die ein Scheitern erlebt haben, sollten mit großer Sensibilität in das kirchliche Leben vor Ort integriert werden. Die Ermutigung, dass Familien sich aktiv in das kirchliche Geschehen einbringen sollen, findet sich schon in Familiaris Consortio von Papst Johannes Paul II, der von „Subjekten der Familienpastoral“ spricht, ebenso in „Amoris Laetitia“, wo Papst Franziskus die Kirche als „Familie von Familien“ bezeichnet (AL87).

Nutzt die Kirche dieses Potenzial?  

Leider noch nicht ausreichend. Da liegt ein wichtiger Weg vor uns. Und die Frage lautet: Sind wir in den Pfarren und anderen kirchlichen Einrichtungen wirklich gastfreundlich für Familien, speziell in den Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen? Vorbild könnten uns diesbezüglich die anderssprachigen Gemeinden sein: Familien sind für sie die entscheidende Lebenszellen, auch für alle pfarrlichen Aktivitäten.

Wie familienfreundlich ist die katholische Kirche in Österreich als Arbeitgeberin? 

Da lässt sich einiges nennen. Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf so weit als möglich zu unterstützen, gibt es in den Diözesen flexible Arbeitszeit-Modelle, zusätzlich freiwillige Kinderzulagen, Anrechnung von Familienzeiten als Vordienstzeiten, aber auch ein Angebot von Kinderbetreuungseinrichtungen. Familienfreundlichkeit ist aber immer mehr als das, sie muss gelebte Kultur sein.

Was wird getan, um eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern? 

Ich denke an flexible Homeoffice-Möglichkeiten. Da hat Corona ja ein Umdenken erzeugt. An die Bedürfnisse von Familien angepasste Teilzeitmöglichkeiten, auch Betriebskindergärten. Für alle, die in Seelsorge und Pastoral hauptberuflich oder ehrenamtlich aktiv sind, braucht es vielleicht noch öfter ein sensibles Abstimmten mit den  familiären Gegebenheiten.

Die Familienmodelle sind heute immer pluraler, immer öfter geprägt vom Scheitern von Beziehungen und neuen Lebensformen. Wie kann die Kirche den in diesen Realitäten lebenden Menschen Wertschätzung und Begleitung zu vermitteln? 

Indem Sie Menschen annimmt, so wie sie sind, ohne moralische Verurteilung. Gott sagt Ja zu jedem Menschen. Also sagt die Kirche auch Ja! Konkret ausbuchstabiert: Zuhören, aufrichten, zur Versöhnung ermutigen. Diese „Methode Jesu“ ist eine Herzenshaltung. Das Weitfamilientreffen fühlt sich wie ein Test an, ob wir als Kirche synodal unterwegs sind: Gelingt es uns, die bunte Palette von Lebensrealitäten wahrzunehmen und Familien in ihren Bedürfnissen zu unterstützen - oder nicht. Die Brüchigkeit von Beziehungen scheint trotz großer Hoffnungen und bester Absichten heute größer denn je zu sein, auch die Angst vor einer längerfristigen Bindung.

Wie kann es Kirche heute und in Zukunft noch gelingen, gleichzeitig ihr Ideal von Ehe und Familie zu vermitteln, als etwas, das von besonderem Wert und erstrebenswert ist? 

Das ist eine große Herausforderung. Am wichtigsten sind Ehepaare, die ihre konkreten Erfahrungen mit anderen teilen. Es gibt zahlreiche Initiativen zur Begleitung von Ehepaaren – Ehe-Alpha-Kurse, Familienakadenien, Kurse von Schönstatt, Marriage Encounter und vieles mehr. In diesen Angeboten geht es vor allem um Kommunikation, Möglichkeiten zur Versöhnung und ein Aufwecken der Freude, die eine Beziehung erst kostbar macht. Und es braucht eine Neuentdeckung, was die Sakramentalität von Ehe ausmacht – geht es doch um viel mehr als nur um eine schöne Trauungszeremonie oder einen allgemeinen Segen. Paare müssen innerhalb der Kirche erleben: Ihr seid nicht allein! Bei der Eröffnung des Kongresses hat als erstes ein kirchlich nicht-verheiratetes Paar gesprochen. Durch die Taufe ihrer Kinder sind sie erst langsam auf die Spur des Glaubens gekommen, hatten aber die Schwierigkeit, tatsächlich in einer Pfarre aufgenommen zu werden. Oft genügt es, wenn wir junge Paare ermutigen, Ja zu ihrer inneren Stimme zu sagen, in der sich eine Sehnsucht nach Treue und Verlässlichkeit ausdrückt.

An die 11.000 Paare trauten sich bis 2019 jährlich in der katholischen Kirche, mit Corona kam 2020 ein Einbruch auf knapp 3.600. Welche Bedeutung und Chancen hat das Ehesakrament heute? 

Dieser Einbruch ist tatsächlich schmerzhaft. Ich bin jedoch überzeugt, dass die Sehnsucht nach Beziehung, die dauerhaft in gegenseitigem Respekt gelebt wird, nicht schwächer wird. Die Frage ist, wie wir den Menschen vermitteln können, dass ein lebendiger Glaube an Gott einen Unterschied für all unsere Beziehung ausmacht. Er hilft uns, das Schöne des Lebens neu zu entdecken, aber auch das Unvollkommene anzunehmen. Genau das macht familiäres Leben für unsere gestylte Wohlstandsgesellschaft so kostbar.

Erst in der Vorwoche hat der Vatikan neue Leitlinien zur Ehebegleitung veröffentlicht, und in Österreich gibt es schon seit 2019 eine „Ehevorbereitung neu“. Wie sind die bisherigen Erfahrungen damit? Hat die Kirche der Vorbereitung und Begleitung der Ehe bisher zu wenig Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet? 

In Österreich gibt es seit 2008 die sehr guten „Standards der Eheseminare für Brautleute“. 2021 haben wir als Bischofskonferenz Leitlinien für die Ehevorbereitung herausgegeben. Es geht um eine möglichst gute Vorbereitung, die von der Lebenssituation der jungen Paare ausgeht. Die Prinzipien, die sich in den Leitlinien finden, sind hilfreich: Wir versuchen die Ehevorbereitung als einen längeren Weg zu verstehen und die Pfarrgemeinden stärker in die Begleitung der Paare einzubinden. Das sind neue Akzente, die noch Zeit brauchen, um Wirkung zu zeigen.

Welche anderen Lehren hat die katholische Kirche in Österreich bisher aus „amoris laetitia“ von 2016 gezogen? Hat das päpstliche Synodalschreiben etwas in Bewegung gebracht, und was bleibt vom Jahr der Familie?  

Ja, tatsächlich wurde „Amoris laetitia“ im kirchlichen Alltag vergessen. Papst Franziskus hat anlässlich des fünfjährigen Jubiläums des Dokuments das „Jahr der Familie“ ausgerufen. Es geht darum, die Freude an Familie in uns allen lebendig zu halten. Und mit dem konkreten Scheitern versöhnter umzugehen. Nicht ausschließen, sondern heilend begleiten und integrieren. Das „Jahr der Familie“, das diese Woche mit dem Weltfamilientreffen seinen Höhepunkt und Abschluss findet, muss weitergehen. Jedes Jahr muss ein Jahr der Familie sein!

Diese Woche findet das Weltfamilientreffen mit Papst Franziskus statt. Was kann Österreich beim einbringen, welche Impulse erhoffen Sie sich aus Rom mitzubringen? 

Jedes delegierte Ehepaar, das aus Österreich beim Weltfamilientreffen in Rom dabei ist, wird versuchen, möglichst viele Impulse nach Hause mitzunehmen. Nichts ist ansteckender als die Begeisterung für Familien, die wir hier erleben. Vieles bleibt zu tun: Familien sind Lernorte der Menschlichkeit inmitten einer nervösen Zeit. Und Familien sind trotz vieler Belastungen die wichtigsten Friedensschulen unserer Zeit. Wo sonst lernen Kinder und Erwachsene, andere Meinungen und Überzeugungen anzunehmen, auszuhalten - oft konträr zur eigenen Ansicht. Familien sind Lernorte für ein versöhnliches Miteinander in einer pluralen Gesellschaft.

Bischof Hermann Glettler. Foto: Aichner