„Armut bedroht Europa!“

Anlässlich 60 Jahre Verträge von Rom fordern Diözese Innsbruck, ÖGB Tirol, AK Tirol und Sozialvereine in einer Resolution: Europa muss menschlicher und sozialer werden! Die EU braucht als fünfte Grundfreiheit die Freiheit von der Armut!

Bei den Feiern anlässlich 60 Jahre Verträge von Rom am 25. März 2017 werden die Staats- und Regierungsspitzen die Union zu Recht als bedeutendstes Friedensprojekt bezeichnen. Und sie werden mit Sicherheit auch auf die aktuellen Bedrohungen hinweisen: Kriege und Flucht, weltweiter Terror, Situation in der Türkei, BREXIT, Populismus, das unsicher gewordene Verhältnis zu den USA. Doch es steht zu befürchten, dass der für die Bürgerinnen und Bürger in der EU beinahe wichtigste Bereich einmal mehr ausgeklammert wird: Die besondere Problematik der zunehmenden Armut in Europa.

Die Tiroler Initiatoren der Resolution stellen fest: Wir bekennen uns eindeutig zum großen „Projekt Europa“. Deshalb setzen wir uns auch kritisch mit dem Zustand der EU und mit der Verantwortung dafür auseinander. Denn die Europäische Union, ihre Mitgliedsstaaten und deren Regionen und Gemeinden haben es in der Hand, Armut und Armutsgefährdung wirksam entgegenzutreten.

Diözesanadministrator Jakob Bürgler: „Eine Gesellschaft, die gutes Leben für alle anstrebt, braucht neben dem Prinzip Eigenverantwortung gleichzeitig die wache Sorge um Menschen, die Unterstützung und Solidarität brauchen. Ohne persönliche und strukturelle Solidarität bricht eine Gesellschaft auseinander. Armut und Armutsgefährdung bedeuten eine gewaltige Herausforderung, der sich Gesellschaft und Politik stellen müssen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Besonders im Blick auf junge Menschen und deren Lebenschancen ist dringender Handlungsbedarf gegeben. Das Prinzip "Freiheit von Armut und Ausgeschlossen werden" bildet eine notwendige Ergänzung und Korrektur zu den vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten der Europäischen Union. Mit vereinten Kräften können wir Großes bewirken und eine Trendumkehr schaffen!“

ÖGB Vorsitzender Otto Leist: „Armut ist kein österreichisches, sondern ein europäisches Problem. Armut stigmatisiert und hält die Betroffenen oft in einem Teufelskreis gefangen, aus dem ein Ausbrechen nur schwer möglich ist. Da Armut oft ‚vererbt‘ wird, legt die Gewerkschaft besonderes Augenmerk auf Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit. Lösungen müssen jetzt erarbeitet werden, um zu verhindern, dass eine ganze Generation in Europa ohne Perspektiven heranwächst.“

AK Präsident Erwin Zangerl: „Vordringliches Ziel muss sein, das Vertrauen in die EU wiederherzustellen, um ein weiteres Auseinanderbrechen der Gemeinschaft zu verhindern. Die europäische Politik ist gefordert, Europa sozialer zu machen. Die in vielen Mitgliedsstaaten weiterhin hohe Arbeitslosigkeit, vor allem die der jungen Menschen, und die teils extrem hohe Ungleichheit bei der Verteilung von Vermögen belasten den sozialen Zusammenhalt und sind Wasser auf die Mühlen populistischer Parteien. Statt den Ausbau militärischer Fähigkeiten voranzutreiben, muss der soziale Zusammenhalt in den Mittelpunkt der EU-Politik rücken.“

In der Resolution wird festgehalten, dass sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Armutsbekämpfung zwei entscheidende Defizite leisten:

1. Die EU setzt ihren vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten (Waren-, Kapital-, Personenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit) keine „Freiheit von Armut“ entgegen. Diesen politischen Mut gegen Tradition und Neoliberalismus hat sie bisher nicht aufgebracht!

2. Die Mitgliedsstaaten wollen nicht begreifen, dass Armut und Armutsgefährdung nur interdisziplinär und kompetenzübergreifend bekämpft werden können. Stattdessen delegieren sie diese Überlebensfrage einfach weiterhin an Sozialministerien bzw. Sozialausschüsse und dergleichen. So wird das Thema Armut marginalisiert. Und mit dem Thema auch die Betroffenen! Das Zulassen von Armut und Armutsgefährdung, noch dazu in dieser Dimension und Aussichtslosigkeit, stellt eine weit höhere Gefahr für den Zusammenhalt Europas dar. Die Bertelsmann-Stiftung spricht diese große Gefahr aus: So werde die Legitimität der Wirtschafts- und Sozialordnung untergraben.

Es liegt also letztlich in unserer eigenen Verantwortung! Das Wissen um die Situation ist allgemein vorhanden. Durch EU-eigene Informationen, durch die Aktivitäten der Zivilgesellschaft, durch das Engagement der Kirchen und ihrer sozialen Einrichtungen, durch die Arbeitnehmervertretungen und die Sozialeinrichtungen. Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass laut Eurobarometer 50 Prozent der Befragten den Abbau der Armut als wichtigste Aufgabe des Europäischen Parlaments sehen.

Die unterzeichnenden Einrichtungen Diözese Innsbruck, ÖGB Tirol, AK Tirol und Sozialeinrichtungen fordern daher … 

  • alle Verantwortlichen auf europäischer Ebene auf, die bisherigen „vier Freiheiten“ durch die fünfte - „Freiheit von Armut und Ausgeschlossen werden“ - zu ergänzen und in allen EU-Rechtsakten und Politikbereichen ausdrücklich zu berücksichtigen.
  • die Mitgliedsstaaten und damit auch das eigene Land dazu auf, der Bekämpfung von Armut und Ausgeschlossen werden endlich die notwendige fach- und kompetenzübergreifende Struktur zu geben. Armut ist ein Thema praktisch aller Politikbereiche: Sie betrifft Bildung, Wohnen, Einkommen, Gesundheit, öffentlichen Verkehr ... Diesbezüglich werden z. B. auch Geschäftsordnungen, Berichtswesen etc. zu überarbeiten sein.
  • alle Verantwortlichen dazu auf, das Thema Jugendarbeitslosigkeit besonders aufmerksam und entschieden in den Blick zu nehmen und anzugehen. Die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit produziert eine Generation in Armut, weil Existenzgründung und Pensionssicherung unmöglich sind.

Konkret bedarf es Maßnahmen in folgenden Bereichen: 

Aktionsprogramm mit mehr sozialen Mindeststandards
Soziale Mindeststandards leisten einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und müssen ausgebaut werden. Das EU-Budget muss stärker auf soziale Ziele wie Bekämpfung von Armut, sozialer Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit ausgerichtet werden. Dazu gehört auch die Verlängerung und finanzielle Aufstockung der Jugendbeschäftigungsinitiative sowie eine europäische Beschäftigungsinitiative für die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen. 

  

Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping
Um eine faire Mobilität in Europa zu gewährleisten, bedarf es eines umfassenden Arbeitnehmerschutzpakets mit dem Ziel: Gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort. 

  

Mehr öffentliche Investitionen
Zukunftsinvestitionen etwa in Infrastruktur, Bildung, sozialen Wohnbau und Kinderbetreuungseinrichtungen sind wichtige Impulsbringer für den Arbeitsmarkt und müssen von der restriktiven Budgetpolitik ausgenommen sein. 

  

Ein faires Steuersystem
Um mehr Steuergerechtigkeit zu erzielen, bedarf es einer effektiveren Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuervermeidung. Dazu zählen auch das Schließen von Steuerschlupflöchern, eine Mindestbesteuerung von Unternehmensgewinnen und die Einführung einer EU-weiten Finanztransaktionssteuer. 

Diözese Innsbruck, AK Tirol und ÖGB Tirol machen auf die Problematik der zunehmenden Armut in Tirol aufmerksam. Foto: pixabay