„Verzaget nicht, jede Zeit hat ihre Schwierigkeiten!“

Ein Text von DDr. Johannes Laichner, Pfarrer in Roppen, Karres, Karrösten und Mils bei Imst anlässlich des 100. Weihetags von Fürstbischof Johannes Raffl, einem volksnahen Hirten auf dem Brixner Bischofsstuhl (1921-1927)

 Vor genau einem Jahrhundert, am 28. April 1921 wurde der aus Roppen gebürtige Geistliche Johannes Raffl (1858-1927) völlig überraschend durch den damaligen Papst Benedikt XV. zum Oberhirten der Diözese Brixen ernannt. Nach seiner Bischofsweihe in der stadtrömischen Basilika S. Prassede durch den emeritierten Kardinalstaatssekretär Rafael Merry del Val y Zulueta folgte am 23. Juni im Brixner Dom die feierliche Inthronisation des damals 62-jährigen Tirolers. Raffls Bischofsernennung ging mit mehreren bedeutenden Neuerungen in der Tiroler Diözesangeschichte einher. Grund genug, Umstände und Zeit der Bestellung des letzten gemeinsamen Fürstbischofs von Tirol, Südtirol und Vorarlberg näher zu beleuchten. Seit beinahe einem halben Jahrtausend nahm der Heilige Vater in Rom die Ernennung des Brixner Fürstbischof wieder selbst vor. Mit dem Zusammenbruch der Donaumonarchie war das kaiserliche Nominationsrecht erloschen und am 3. März 1919 auch formell vom österreichischen Staatsrat unter Karl Renner für hinfällig erklärt worden. Rom hatte den Brixner Bischofsstuhl drei Jahre vakant belassen, wohl auch deshalb, weil man unter keinen Umständen dem italienischen König das alte Nominationsrecht des Hauses Habsburg zugestehen wollte. Die Freude im ganzen Bistum über die längst überfällige Personalentscheidung aus dem Vatikan war 1921 dementsprechend groß. Man lobte zugleich die Demut des neuen Oberhirten und sprach von seiner „bezwingenden Liebenswürdigkeit“. Zugleich war sich die Öffentlichkeit auch der Bürde dieses Bischofsamtes bewusst, besonders in diesen schwierigen Zeiten mitten im Wiederaufbau nach einem verheerenden Weltkrieg. Der lange Krieg hatte das christliche Kultur- und Geistesleben verwüstet. Vieles, was im christlichen Sittengesetz bisher selbstverständlich verankert war, lag nun sprichwörtlich in Trümmern. 

 

Hinzu kam der Schmerz über die Trennung Tirols am Brennerpass. Durch die Entmachtung der früheren politischen Akteure nach der Annexion 1919 verblieb die Kirche als wohl letzte bedeutende Trägerin des Tiroler Landesbewusstseins. Die Kirche sah sich in den folgenden Jahren gedrängt, für die Rechte der benachteiligten Bevölkerung einzutreten und besonders die Deutsch und Ladinisch sprechenden Südtiroler vor den zunehmenden Repressionen der faschistischen Regierung in Schutz zu nehmen. 

 

Raffls Amtsantritt fiel aber nicht nur in die bewegte Zeit der Neuordnung aller staatlichen Angelegenheiten durch den Friedensvertrag von St. Germain und der willkürlich aufgezwungenen und zutiefst schmerzhaften Spaltung Tirols und seiner Bevölkerung, sondern war auch geprägt vom Ende einer mehr als 1000-jährigen Geschichte eines Bistums. Hatten seine Vorgänger bei ihrer Inthronisation in Brixen noch ein riesiges Diözesangebiet übernommen und reichte ihre bischöfliche Jurisdiktion vom Bodensee bis zum Zillerfluss, von Reutte bis Ampezzo und vom Achensee bis in den Obervinschgau, so sah sich Raffl infolge der Abtrennung von Österreich mit dem allmählichen Verlust von drei Viertel des ursprünglichen Diözesangebietes konfrontiert. Zwar sollten die Verbindungen zwischen Innsbruck-Feldkirch und Brixen bis 1925 eng bleiben, trotzdem war schon 1921 absehbar, dass sich die in Österreich verbliebenen Diözesangebiete in wenigen Jahren zu einem selbstständigen kirchlichen Verwaltungssprengel entwickeln würden. 

 

Wohl auch in Reaktion auf die Neuordnung der Staatsgrenzen und der daraus resultierenden Schwierigkeiten einer länderübergreifenden Seelsorge übertrug Papst Benedikt XV. dem bisherigen Generalvikar von Vorarlberg, Sigmund Waitz mit dem Dekret vom 9. April 1921 die geistliche Amtsgewalt für den österreichischen Teil der Diözese Brixen, aber immer noch in Unterordnung zu Fürstbischof Johannes Raffl, der nur drei Wochen später sein neues Hirtenamt annehmen sollte. Im Unterschied zu den Vorgängern im Bischofsamt war Raffl weder Domherr noch Theologieprofessor gewesen. Trotz seiner demütigen Selbsteinschätzung brachte er aber dennoch genügend Erfahrung mit ins Bischofsamt, vom Präfektendienst im Brixner Knabenseminar Vinzentinum über die Pfarrseelsorge in mehreren Nordtiroler Gemeinden (Jenbach, Mieming und Oberhofen) zum diözesanen Kanzlei- und Wirtschaftsressort, dabei der ständige Haus- und Tischgenosse mehrerer Fürstbischöfe in der Brixner Hofburg und als solcher in alle Einzelheiten der episkopalen Geschäfte und Angelegenheiten eingeweiht, von der Seelsorge niemals losgelöst, weder vom Beichtstuhl noch vom katholischen Vereinsleben. In der öffentlichen Wahrnehmung galt er daher von Anfang an als ein Mann aus dem Volk, ganz nach dem Wunsch vieler Gläubigen. Bis zu seinem allzu frühen Ableben 1927 war Raffls Amtszeit von großen politischen und kirchlichen Veränderungen geprägt. Die Annexion Südtirols durch Italien führte 1925 zur Teilung der Diözese Brixen und längerfristig zur Errichtung der Diözesen Bozen-Brixen, Innsbruck und Feldkirch. Trotz dieser schmerzhaften Teilung der Diözese oder gerade auch deshalb suchte Fürstbischof Johannes nach 1925 noch intensiver die Nähe zum gläubigen Volk. Er blieb im Grunde der eifrige Landpfarrer, der sich als guter Hirte um die ihm Anvertrauten kümmerte.

 

Er galt zeitlebens als volksnaher und gütiger Oberhirte. Seine Predigten und Katechesen waren wortgewaltig und prophetisch zugleich. Seine Analysen wirken bis heute zeitlos aktuell: „Unsere moderne Gesellschaft gleicht in vielen Punkten jener alten Welt vor Christus. Sie ist vielfach abgefallen von Christus, dafür gibt man sich allem möglichen Aberglauben hin wie Okkultismus und Spiritismus. Der Glaubenslosigkeit folgt auf der Ferse nach die Sittenlosigkeit. Das Heiligtum der Ehe ist entweiht. Die Achtung vor der Würde der Frau sinkt immer tiefer, die Häuser öffentlicher Unzucht nehmen überhand, ein Strom von Unsittlichkeit ergießt sich in Theater, Opern, Kino, Kunst und Literatur über ganz Europa und alle Kulturstaaten. Das Leben des Kindes wird nicht mehr geschont als unter den alten Heiden: die Zahl der Geburten geht zurück, der weiße Tod, die Abtreibung der Leibesfrucht nimmt immer größeren Umfang an. Die Religion wird über Bord geworfen und an ihre Stelle die Philosophie gesetzt. In der Genusssucht und Vergnügungssucht finden viele das größte Glück und den obersten Zweck des Menschen. In dem Maße aber, in dem man abfällt von den ewigen Gütern, versinkt man ins Irdische. Wie in der alten Welt hören wir auch heute überall Klagen, überall Elend und Jammer und man sehnt sich nach Erlösung. Diese Erlösung finden wir aber nur in Christus. Es ist in keinem anderen Heil. Wohlan, nehmen wir es ernst mit dieser Rückkehr zu Christus!“ 

 

Für Raffl stand fest: Die Abkehr von Christus und damit von der letzten Wahrheit bedeutet am Ende auch die Abkehr von einer humanen und freien Gesellschaft. Wahrheit muss es geben. Sie stellt auch keine Bedrohung der Freiheit dar, sondern ermöglicht sie erst. Gefährlich sind vielmehr der wachsende Individualismus und der Relativismus, die auf Wahrheit verzichten und in einen Kampf aller gegen alle münden. 

 

Im Blick auf Christus, der ewigen Wahrheit schlechthin, kann uns ein Leitwort von Fürstbischof Johannes Raffl auch heute in diesen bedrängten und mitunter verwirrenden Zeiten Hoffnung und Mut schenken: „Verzaget nicht, jede Zeit hat ihre Schwierigkeiten!“ 

Fürstbischof Johannes Raffl, Ölgemälde von Thomas Riss, 1923 – Stift Stams