Verbundenheit - geistvoll und nachhaltig

Wortlaut der Predigt von Bischof Hermann Glettler anlässlich der Georgimesse in der Kapelle des TIroler Landhauses in Innsbruck.

Einleitung: Bis ins Jahr 1772 war der Hl. Georg der erste und einzige Landespatron Tirols. Dann wurde ihm von den Habsburgern der Hl. Josef vorgezogen. Erst im Jahr 2006 gab es eine teilweise Rehabilitierung zum zweiten Landespatron von Tirol. Wichtiger als diese nette Geschichte ums Ranking unserer Landespatrone ist die Frage: Was bedeutet Heiligkeit in einer bedrängten Zeit? Ist es nicht gerade dieses so kostbare „Dasein für Andere“, das wir jetzt zu schätzen gelernt haben? In der Krise wurde uns die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens deutlich vor Augen geführt. Nichts ist selbstverständlich. Es ist vielmehr notwendig für die körperliche und seelische Gesundheit zu kämpfen, ebenso für ein gemeinsames, aber nicht vereinnahmendes WIR und für eine lebenswerte Zukunft. Mir scheint, dass der Hl. Georg gerade jetzt eine wichtige Leitfigur sein kann.

1.     Verbundenheit ist lebensnotwendig 

Wir haben durch die Krise gelernt, organischer zu denken. Der Gesamtorganismus Gesellschaft funktioniert nur durch ein gutes Zusammenspiel staatlicher Strukturen, politischer Verantwortungsträger/innen, unterschiedlichster Behörden und Einrichtungen, diverser Hilfsorganisationen und durch das professionelle Engagement vieler Einzelpersonen. Es wird in einer Ausnahmesituation deutlich, dass wir einander brauchen. Niemand kann „den Betrieb“ alleine aufrechterhalten und niemand ist für die Gemeinschaft entbehrlich. Krisenbedingt sind wir draufgekommen, dass es viele unterbewertete Berufsgruppen und Dienste gibt. Ihre Wertschätzung darf nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben. Ob beruflich oder ehrenamtlich – es kommt auf das Mitdenken, Mitfühlen und Mittun jeder Person an. Die Eigenverantwortung von uns allen ist gefragt. 

Das soeben gehörte Evangelium bringt das Bild des Weinstocks. Aufgrund meiner Tätigkeit im Weinland der Südoststeiermark ist es mir sehr vertraut. Es ist ein organisches Bild von Zusammengehörigkeit und Wachstum. Die tragende Mitte, der Stamm ist Christus selbst. Mit ihm verbunden können sich die Rebzweige entfalten und Frucht bringen. Der Weinstock Christus wurde uns von Gott, dem himmlischen Winzer geschenkt, groß geworden ist er auf der Erde Palästinas. Dieser Weinstock Christus ist die Verbundenheit von Himmel und Erde und er ist die Mitte, die uns als Menschen zusammenhält. In ihm ist Quelle und Verbundenheit eines neuen Lebens. Mit ihm eins gibt es auch eine neue Qualität des Miteinanders, ein „Zusammenwachsen“ – im Doppelsinn des Wortes. Miteinander wachsen und auch Konflikte gut austragen zu können.

In dem Bild von Weinstock sind aber auch andere, bedrängende Erfahrungen unserer Zeit unterzubringen, z.B. wenn sich Menschen vom eigentlichen Leben „abgeschnitten“ fühlen, „ausgedorrt“ aufgrund von Vereinsamung und Ausgrenzung. Es ist uns klar, dass wir nur in einer guten Verbundenheit für viele Menschen Lebensqualität sichern können. Viele „Wassertriebe“ egoistischer Einzelinteressen müssen zurückgeschnitten werden, sonst werden sie zur Belastung für andere – Energie absorbierend. Wenn wir das biblische Wort ernst nehmen, wird unser Zusammenleben permanent von Christus, d.h. von seinem Geist, von seiner Lebensenergie befruchtet und getragen. Wenn er unsere Mitte ist, der tragende Stamm, dann hat unser Leben eine neue Qualität, dann wird das kollektive „Wir“ nicht zur Last und auch nicht zur Bedrohung für Menschen, die nicht mitkommen können. 

2.     Auf der Suche nach einer NEUEN Normalität 

Was wird sich durch die Krise verändern? Diese Frage ist sofort nach dem Inkrafttreten der ersten verordneten Maßnahmen aufgetaucht. Ausgelöst wurde sie durch eine überraschende solidarische Verbundenheit in der Bevölkerung, die Gott sei Dank immer noch anhält. Davon motiviert gab es nicht wenige euphorische Stimmen, die einen positiven Wandel in unserer Gesellschaft prophezeiten. Man sprach von endlich fälligen Transformationsprozessen und auch einigen utopischen Wunschbildern. Auch ich selbst habe gemeint, dass wir aufmerksamer, dankbarer, solidarischer und damit ein Stück weit menschlicher aus der Krise hervorgehen werden. Ich bin mittlerweile etwas ernüchtert. Nachhaltige Veränderungsprozesse, die einen kollektiven Lebensstil und grundlegende Verhaltensmuster betreffen, brauchen sehr viel Zeit und mehr Entschlossenheit. 

Die entscheidende Frage lautet, was wir denn wirklich verändert haben WOLLEN. Was soll neu werden? „Alles wieder hochfahren!“ lautet doch die Devise. Und mit Recht wünschen wir uns eine Rückkehr zum normalen Alltag. Es folgen auch schrittweise die vorsichtigen Zusagen zu einer Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens – in einer systematischen Abwägung aller damit verbundenen Interessen. Aus einsichtigen Gründen drängt in den Betrieben, Schulen, Kirchen, im Bereich von Kultur und Gastronomie die „Neue Normalität“ auf Schien zu bringen. Aber gönnen wir uns trotzdem die kritische Nachdenklichkeit, was das NEUE daran sein könnte: Wollen wir zukünftig eine größere Gerechtigkeit, von der alle Bevölkerungsschichten profitieren? Wollen wir zukünftig einen nachhaltigeren Umgang mit der Schöpfung und den begrenzten Ressourcen? Wollen wir mehr Achtsamkeit auf die spirituellen Wurzeln und Bedürfnisse unseres Menschseins – oder muss alles der Logik des Profits und der Leistung geopfert werden? Was hat die Chance, neu zu werden?

In der heutigen Lesung haben wir den verklärten Christus sagen hören: „Siehe, ich mache alles neu!“ Es ist eine Verheißung, die unsere irdisch begrenzte Zeiterfahrung mit der Ewigkeit verbindet. Alles neu? Wir werden seinen Geist dafür brauchen. Wirklich Neues können wir nur schaffen, wenn wir mit einem neuen Herzen leben, das sich nicht verhärtet und keiner Gleichgültigkeit Raum gibt. Wirklich Neues können wir nur schaffen, wenn wir mit einer neuen Haltung leben, die nicht auf ein Immer-Mehr und Immer-Schneller setzt. Wirklich Neues können wir nur schaffen, wenn wir unser Denken von Grund auf erneuern, sodass wir ein Konzept von Leben vor Augen haben, dass nicht systematisch auf Kosten anderer beruht. Der Begriff der „Neuen Normalität“ könnte in seiner ganzen Ambivalenz eine gute Hilfe sein. Das ersehnte Neuwerden beginnt mit einer inneren Umkehr.

3.     Der Heilige Georg ist eine LEITFIGUR in der Krise 

Historisch wissen wir recht wenig über den starken Helden, der gemäß der bekanntesten Legende eine Stadt von der Bedrohung eines Drachen befreit hat. Dadurch kam Georg jedoch in die Rolle des Helden und wurde leider auch eine Gallionsfigur für Kriege und Aggressionen im Namen des Glaubens. Gelebt hat Georg in Kappadozien, also ziemlich genau in der Gegend, wo sich heute die großen Flüchtlingslager auf türkischem Staatsgebiet befinden. In der Diokletianischen Christenverfolgung hat er mit seinem Leben Zeugnis für seinen Glauben abgelegt. Georg ist damit ein Vorbild, dass es zu jeder Zeit die innere Freiheit braucht, um zur eigenen Überzeugung zu stehen. Er war keine Mitläuferfigur, sondern ein Mensch, der sich selbst in die Waagschale wirft. Wofür ist dies heute notwendig und wofür lohnt es sich zu kämpfen? 

Es lohnt sich für das Leben und für die körperliche und seelische Gesundheit aller Menschen zu kämpfen. Die große Gesundheitskatastrophe konnte abgewendet werden, die psycho-sozialen Folgen stehen noch als große Aufgabe vor uns. Viele befinden sich mittlerweile in einem wirtschaftlichen Überlebenskampf und dazu kommt eine Unzahl arbeitsloser Menschen, die mit Überlebensängsten kämpfen. Mit ihnen müssen wir kämpfen – geistvoll, kreativ und mit dem gebotenen Weitblick. Ebenso müssen wir für und mit jenen kämpfen, die in der Krisenzeit an die Grenzen ihrer emotionalen Belastungen gekommen sind oder unter der Einschränkung ihrer sozialen Kontakte zu leiden haben. Vieles wäre noch aufzuzählen. Leidenschaft, Hausverstand und Glaube sind gefragt – für den „guten Kampf“. Heiliger Georg, wir brauchen himmlische Unterstützung!