Mittelmeer "ein kalter Friedhof"

Papst prangert bei Besuch auf Lesbos Untätigkeit in Flüchtlingspolitik an

Bei seinem nach 2016 zweiten Besuch in einem Flüchtlingslager auf Lesbos nahm sich Papst Franziskus viel Zeit für einen Gang entlang der zwischen Containern auf ihn wartenden Männer, Frauen und Kinder. Immer wieder fordert er, Menschen, die fliehen und ein würdiges Leben suchen, ins Gesicht zu blicken. An diesem Tag sind es die Gesichter dieser Kinder und ihrer Eltern, deren Bilder Franziskus von Lesbos aus in die Welt senden will. In seiner leidenschaftlichen wie auch differenzierten Ansprache erinnerte Franziskus daran, dass "in der heutigen Welt bruchstückhafte Lösungen unzureichend sind".

 

Während Corona-Impfungen auf Weltebene vorangebracht würden und sich im Kampf gegen Klimaveränderungen etwas zu bewegen scheine, "sieht alles im Bereich der Migrationen nach einem schrecklichen Stillstand aus", so seine Klage. Die ständige Abwälzung von Verantwortung müsse aufhören, und die Migrationsfrage nicht immer an andere delegiert werden, kritisierte der Papst. Das Mittelmeer sei "zu einem kalten Friedhof ohne Grabsteine" geworden. "Lasst uns diesen Schiffbruch der Zivilisation stoppen!", sagte er bitter.

 

Gleichzeitig würdigte er zwischenzeitliche kleine Fortschritte bei der Unterbringung auf Lesbos. Die gibt es in der Tat, wenn man das neue Aufnahme- und Registrierungszentrum der EU mit dem früheren Lager Moria vergleicht. Ausdrücklich bedankte sich der Pontifex bei Freiwilligen und Helfern vor Ort. Gedanklich war Franziskus hörbar auch an der belarussisch-polnischen Grenze. Verschiedentlich fügte er in seinen Reden spontan das Wort "Stacheldraht" ein.

 

Eine Meldung von www.kathpress.at 

Das Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos vor einem Jahr – Foto: Bischof Hermann Glettler

Ermutigung, nicht nachzulassen

Statement von Hermann Glettler, Diözesanbischof von Innsbruck, zum Besuch von Papst Franziskus auf der Insel Lesbos, 5. Dezember 2021

Dass Papst Franziskus nun schon zum zweiten Mal die griechischen Inseln besucht, die von der Flüchtlingskrise besonders herausgefordert sind, ist wieder einmal ein berührendes Zeichen seiner Solidarität mit Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, und mit allen, die um sie Sorge tragen. Durch meinen Kontakt mit engagierten NGOs auf der Insel weiß ich, dass sich viele über seinen Besuch außerordentlich freuen und eine Ermutigung erwarten.

 

Ich selbst war genau vor einem Jahr, am 6. – 9. Dezember 2020, zusammen mit einer kleinen Gruppe von Aktivisten und Medienleuten auf Lesbos, um mir persönlich ein Bild zu machen. Ich wollte nicht länger beim Wegschauen und Verdrängen einer der größten humanitären Katastrophen in Europa mitmachen. Ich habe vor Ort einiges an Mühe wahrgenommen, das Elend für die Flüchtenden erträglicher zu machen, aber ebenso viel Ohnmacht und Verbitterung gesehen – gerade auch auf Seiten der dortigen Bevölkerung. Viele fühlen sich von Europa und der griechischen Regierung im Stich gelassen. Ich hatte den Eindruck, dass es tatsächlich eine unmenschliche Strategie auf europäischer Ebene gibt, möglichst viele Asylsuchende in der Elendszone festzuhalten, um einen abschreckenden Puffer vor eventuell Nachkommende zu haben.

 

Trotz der aktuellen Bemühungen der griechischen Regierung, von Behörden und Hilfsorganisationen harren aktuell noch immer rund 2.500 Menschen unter schwierigen Bedingungen im RIC Camp auf Lesbos aus. Volunteers berichten, dass sowohl in den großen Hallen, in denen viele Menschen gemeinsam in Holzboxen untergebracht sind, als auch in den kleinen Zelten wegen des stürmischen Winterwetters an Schlaf kaum zu denken ist. Für Menschen mit negativem Asylbescheid gibt es keine finanzielle Unterstützung, lediglich Essen und minimale medizinische Versorgung.

 

Was ist seit einem Jahr geschehen? Ca. 70% der Schutzsuchenden auf den Inseln haben bereits Asyl erhalten. Sie allesamt wurden ohne jegliche finanzielle Unterstützung, ohne Aussicht auf Unterbringung und ohne soziale Begleitung auf das griechische Festland geschickt. Viele wurden nach ihrer Ankunft auch bei den bestehenden Camps in Athen und Thessaloniki abgewiesen. Obdachlosigkeit ist die Folge, ebenso Ausbeutung und Kriminalität. Die nicht immer ausreichende Grundversorgung geschieht meist durch NGOs. Hier sollte möglichst rasch eine konzentrierte Hilfe Europas ansetzen – dazu braucht es den politischen Willen und eine koordinierende Kraft.

 

Lesbos ist zum Symbol für tausendfaches Leid von Heimatvertriebenen geworden, verursacht durch eine rigorose Abschreckungs- und Abschottungspolitik, nationalstaatliche Eigeninteressen und engstirnige Ressentiments. Zugleich steht die ägäische Insel – trotz allem – aber auch für Hoffnung, getragen von Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit. Mich persönlich hat eine kleine griechische NGO am meisten beeindruckt. Das leitende Ehepaar hat eine gut gehende Taverne geschlossen, um seither, also seit 2015 (!) für die besonders vulnerablen Gruppen im Camp zu kochen – täglich bereiten sie mit einem Team von Volunteers ca. 1000 Menüs. Im Gespräch haben sie mir erklärt, dass sie durch die Fürsorge, zu der sie sich entschieden haben, auch ihren Glauben entdeckt haben: „We learnt God!“ In der Begegnung mit diesen engagierten Menschen habe ich gemerkt, dass dies nicht nur ein flacher Sager ist.

 

Die Kunst des Brückenbauens ist angesichts der herausfordernden Flüchtlingsthematik, die sich augenscheinlich gerade an den Außengrenzen der EU in Griechenland, Kroatien, in der Grenzregion zwischen Polen und Weißrussland sowie an der französischen Grenze am Ärmelkanal abspielt, Voraussetzung für eine längst überfällige gemeinsame europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik. Papst Franziskus wird zum Glück nicht müde, vor Indifferenz und empathieloser Gleichgültigkeit zu warnen – es ist tatsächlich ein Anruf Gottes, dass wir gerade den Schwächsten auf unserem Kontinent respektvoll begegnen, so weit wie möglich Unterstützung anbieten und niemanden dauerhaft auf die Verliererstraße drängen. Dass dies nicht einfach ist und immer auch durch die Aufnahmekapazität eines Landes begrenzt ist, wissen wir. Dennoch: Unser Glaube bietet uns viel Inspiration, Mut und Durchhaltekraft, um einen anderen Weg, den „neuen Weg“ Jesu auch in dieser herausfordernden, globalen Krise zu gehen. Nach meinem Besuch auf Lesbos habe ich beobachten können, dass sich viele Menschen und Gruppierungen aus der Zivilgesellschaft und aus der Kirche zusammengeschlossen haben, um ernsthaft einen Beitrag zu einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik zu leisten. Papst Franziskus ermutigt uns und alle politischen Verantwortungsträger, darin nicht nachzulassen.

Foto: Bischof Hermann Glettler

Bischof Hermann besuchte das Flüchtlingslager Kara Tepe vom 6. bis 9. Dezember 2020. Foto: H. Primas