„Mensch Gottes“ in Zeiten der Erschütterung

Predigt von Bischof Hermann Glettler zum Innsbrucker „Alexius-Fest“ am 17. Juli 2020 – ein Gottesdienst, zu dem speziell Menschen aus Innsbrucker Sozialeinrichtungen eingeladen wurden.

1.     Ein Heiliger der Verbundenheit 

In der Akutphase der Corona-Krise haben wir eine erstaunliche Verbundenheit der Menschen erlebt. War es nicht überraschend, dass wir alle das Zeug zu einer ungekünstelten Freundlichkeit haben? Vielfältige Zeichen der Zusammengehörigkeit waren plötzlich selbstverständlich – Menschen, die sich sonst kaum um ihre Nachbarn kümmern, haben plötzlich nachgefragt oder sich Sorgen gemacht, wie es jenen wohl gehen mag, die keine eigene Wohnung haben, um sich zurückzuziehen. Möglicherweise braucht es solche erschütternden Ereignisse, damit wir merken, wie sehr wir einander brauchen und auch voneinander abhängig sind.

Alexius ist auch ein Heiliger, der nicht nur in unserer katholischen Kirche seit Jahrhunderten verehrt wird, sondern uns auch mit der syrischen Kirche und der gesamten Orthodoxie verbindet, in der der Hl. Alexius als „Mensch Gottes“ verehrt wird. In einer syrischen Vita aus dem 5. Jahrhundert wird von einem Einsiedler berichtet, der aus Rom kommend in Edessa als Einsiedler gelebt hat und bald große Verehrung erfuhr. Der Name Alexius bedeutet auf Griechisch „Hilfe“. Damit wird bezeugt, dass dieser außergewöhnliche Mensch, der abseits der Öffentlichkeit gelebt hat, doch zu einem wichtigen Patron für alle Hilfesuchenden wurde. Die Art seines Lebens und Betens hatte geheimnisvoller Weise eine nachhaltige „Wirkung“ in der Ost- und Westkirche.

2.     Ein Heiliger der Erschütterung 

Alexius, Sohn des römischen Senators Euphemius verließ nach seiner Hochzeit die Eltern und seine angetraute Frau und floh nach Edessa, wo er gemäß der Legende aus dem 10. Jahrhundert, 17 Jahre als Bettler vor einer Kirche gelebt habe. Als dem Küster durch ein göttliche Eingebung kund wurde, dass dieser Bettler ein heiliger Mann sei, veranlasste er dessen Verehrung. Aber Alexius floh über See und wurde durch einen Sturm nach Rom zurückverschlagen, wo sein Vater den als Pilger Bettelnden nicht erkannte, aber in sein Haus aufnahm. Wiederum 17 Jahre lang lebte Alexius unter der Treppe des Elternhauses, dem Spott des Gesindes ausgesetzt. Erst als er starb, gab er sich durch ein Schreiben zu erkennen. Wir wissen nicht, wie unser Leben am besten und schönsten „wirksam“ wird für die Anderen.

Der Hl. Alexius wird mit auf fast allen Bildern mit der Stiege dargestellt, unter der er 17 Jahre unerkannt von seiner eigenen Familie verbracht hat. Die Stiege ist ein starkes Symbol für das „Auf und Ab“ im Leben, für die Phasen, wo es bergauf geht und für die Zeiten der Enttäuschung und der Verluste, wo es hinunter geht. Auf der Leiter der Anerkennung und des Ansehens gibt es ein Hinaufkommen und Abstürze, dasselbe gilt für die Karriereleiter im Beruflichen. Hinauf und Hinunter – das macht unser Leben aus, verbunden mit vielen positiven Emotionen und Enttäuschungen. Der Hl. Alexius hat das „ganz unten“ am eigenen Leib erfahren. Damit ist er für uns eine glaubwürdige Leitfigur. Nur wer selbst, ein wenig verspürt und leibhaftig verkostet hat, was es bedeutet, ausgestoßen und verachtet zu sein, wird erspüren können, wie es Menschen geht, die dies durchmachen. Im sozialen Gefüge ganz unten oder sogar „unten durch“ zu sein, ums Überleben kämpfen zu müssen, kein Ansehen mehr zu haben, mit dem Abwaschwasser der Verachtung überschüttet zu werden – all diese Erfahrungen sind starke Bilder aus der Vita des zweiten Stadtpatrons von Innsbruck. Sie sind uns Anlass und Herausforderung, achtsamer und hilfsbereiter miteinander umzugehen. Wertschätzung zu leben sowie wir von Gott wertgeschätzt werden. Jesus selbst hat die Treppe von ganz oben nach ganz unten beschritten, um uns aufzurichten. Erschütterungen und Abstürze können uns allen passieren.

3.     Alexius ein „Mensch Gottes“ 

In der Ostkirche wird Alexius als „Mensch Gottes“ bezeichnet – wunderschöne Ikonen zeugen davon. Eine wunderschöne Bezeichnung, in der ein großes Trostpotential für unsere Zeit liegt. Offensichtlich kommt es in der Beurteilung durch den Blick Gottes nicht auf unsere Leistungen an, auf das, was wir vorzuweisen haben – und stolz als unseren Verdienst oder unseren Besitz vorweisen können. Vielleicht manchmal ganz im Gegenteil: Ein Armer, ein Leidender, ein Verspotteter, ein Verkannter, ein Fremder, ein Nichts-Nütziger, ein Abschaum der Gesellschaft – wird zum Verbindungsmann mit Gott. Wer um seine Armut weiß und niemanden etwas vorgaukelt, kann befreiend wirken. Was sonst ist ein Heiliger, als jemand, der eine lebendige Verbindung herstellt – zwischen Erde und Himmel. Das ist unsere Berufung als diejenigen, die zu Jesus Christus gehören.

Weil wir zu Christus gehören, den wir zu allererst als „Mensch Gottes“ bezeichnen dürfen, trifft die Bezeichnung „Menschen Gottes“ auf uns alle zu. Jesus, der menschgewordene Gott, hat uns alle zu Geschwistern gemacht, zu Brüdern und Schwestern – so unterschiedlich wir sind. Diese universelle Verbundenheit ist eine Kraftquelle und Verpflichtung, einander nicht hängen zu lassen. Jeder Mensch ist „systemrelevant“, jeder Mensch, ob gesund oder krank, leistungsstark oder mit eigenen Sorgen belastet, hat dieselbe Würde. In unserer, Gott sei Dank, wohlhabenden Stadt Innsbruck feiern wir heute ein Fest – und danken für den Stadtpatron Alexius, der uns Leitfigur und Fürsprecher ist, um niemanden zu übersehen – denn wir wissen, dass es viele gibt, die mit physischer und psychischer Not zu kämpfen haben. Aber es gibt auch viele, die ihr Herz offen halten.

Seit einigen Jahren wird der Alexius-Tag in Innsbruck wieder gefeiert.