Kanäle erneuern

Gedanken zum Weihnachtsfest 2021 von Bischof Hermann Glettler in der Kirchenzeitung "Tiroler Sonntag" vom 23. Dezember 2021.

Im Zuge der Sanierungsarbeiten in der Innsbrucker Altstadt wurden im Sommer 2020 auch „Ritschen“, historische Überreste des alten Entwässerungssystems, freigelegt. Diese Vorläufer der Kanalisation waren aus Stein gemauerte Rohrsysteme, in denen das Schmutz- und Regenwasser abgeleitet wurde. Ein solches Ritschen-Element ist am Domplatz als Schauobjekt direkt vor der großen Holzkrippe aufgestellt (siehe Bild rechts). Auf den ersten Blick ergibt sich kein Zusammenhang mit der Geburtsszene Jesu, es sei denn, man denkt an die ostkirchlichen Weihnachtsikonen. Auf diesen liegt das in Windeln gewickelte Kind in einer Höhle unter aufgerissenen Felsen. Uns ist eher die volkstümliche Hütte vertraut. In jedem Fall regt die Szene zum Staunen an: Gott so überraschend nahe, berührbar und angreifbar! Jesus selbst, so könnte man sagen, ist der offene Kanal zwischen Himmel und Erde, die lebendige Verbundenheit. Die Hirten auf dem Feld von Betlehem haben wohl diese Erfahrung gemacht: Mitten in der Nacht Licht und Frieden aus allen himmlischen Kanälen!

Versorgung und Entsorgung. 

Neben der Installation von Kanälen für Trinkwasser, Strom, Erdgas und Internet wurden in der Innenstadt auch die Hauskanalanschlüsse erneuert. Genauso wichtig wie die Zufuhr von neuer Energie ist schließlich die Entsorgung von Schmutzwasser. Leider sind zurzeit viele Kommunikationskanäle verstopft. Die Metapher ist verständlich. Wir haben einen gefährlichen Punkt von Dialogunfähigkeit erreicht – verhärtete Standpunkte und Verletzungen. 

Viele lassen einfach überall ihren Dreck ab. Nicht nur familiäre Beziehungen leiden unter der Impfdebatte und ähnlichen Covid-Themen. Keine geringe Zahl von Menschen ist zudem auf „Kanäle“ fixiert, die nicht informieren, sondern eher Misstrauen befeuern. Zugegeben: Die unüberschaubare Fülle an besorgniserregenden Ereignissen überfordert alle Kanäle. Was tun? Das Weihnachtsfest ist die Chance zur Kanalreinigung. Angestautes Schmutzwasser muss entsorgt werden. Reinigung und Versöhnung sind notwendig und möglich – durch eine schlichte Bitte um Entschuldigung und ein Wort der Vergebung. Spätestens am Heiligen Abend.

Energie für Begegnung. 

Durch die Menschwerdung seines Sohnes hat uns Gott mit neuem und ewigem Leben beschenkt. Um es aufzunehmen braucht es verlässliche Kanäle und einen funktionierenden Energiekreislauf. Vielfältige Ängste und aufgeblähte Sorgen verhindern leider zu oft die Zirkulation von Lebensfreude und Vertrauen. Wir wissen, dass es neben den körperlichen auch die seelischen Gefäßerkrankungen gibt, Ermüdungen, Verhärtungen und Blockaden. Wir brauchen Hilfe. Aus diesem Grund verkündet der Weihnachtsengel laut und deutlich: „Fürchtet euch nicht! Heute ist euch der Retter geboren.“ 

Jesus selbst kann uns innerlich freimachen und erneuern. Das weihnachtliche Licht ist seine tröstende und befreiende Gegenwart, seine großzügig ausgeschüttete Herzensenergie. Stellen wir unsere inneren Anschlüsse dafür bereit. 

Gott ist jeder Kanal recht, um uns zu begegnen und zu beschenken.

 

Bischof + Hermann Glettler 

Szenerie am Innsbrucker Domplatz – mit der Nachbildung eines mittelalterlichen Kanals. Diözese Innsbruck