Für mehr soziale Wachsamkeit

Hermann Glettler, Bischof der Diözese Innsbruck, und Magdalena Modler-El Abdaoui, Beauftragte für den interreligiösen Dialog der Diözese Innsbruck rufen angesichts des antisemitischen Übergriffs in Wien in einem offenen Brief zu sozialem Zusammenhalt auf.

Der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft wird derzeit vielfach auf die Probe gestellt. Angriffe wie der gestrige antisemitische Übergriff auf einen Rabbiner in Wien machen deutlich, dass gegen bestimmte Menschengruppen gehetzt und aufgewiegelt wird. Meist trifft es religiöse, ethnische und kulturelle Minderheiten zuerst. Das macht uns fassungslos. Überzeugt vom hohen Wert einer demokratischen Grundgesinnung sollten wir diesem erschreckend polarisierenden Geist keinen Raum geben. Der Gesamtorganismus Gesellschaft ist fragil und äußerst verwundbar.

Wir alle sind aufgerufen, Fehlentwicklungen wahrzunehmen und uns nicht spalten zu lassen, füreinander einzustehen und uns mindestens so intensiv gegen den Hass zu schützen wie gegen das Coronavirus. Nehmen wir die traurigen Ereignisse der letzten Zeit zum Anlass für eine erhöhte soziale Wachsamkeit. Im ganz normalen Alltag ist Zivilcourage gefragt. Wir alle sind dazu aufgefordert – meist geht es ja nicht um den Einsatz von Leib und Leben, sondern um ein verständnisvolles Zeichen oder ein verlässliches Nicht-Wegsehen. Es geht um das Verbindende im öffentlichen Diskurs und in den sozialen Foren.

Die Notwendigkeit eines verstärkten Schutzes von Kirchen und anderen Einrichtungen von Religionsgemeinschaften gibt uns ebenso zu denken. Lassen wir uns aufgrund dieser angeordneten Präventivmaßnahmen nicht von den Erstimpulsen von Angst, Wut oder Schuldzuweisung leiten! All diese Emotionen können in die Irre führen. Suchen wir vielmehr den Schulterschluss mit allen, die an einer gesunden, solidarischen Zivilgesellschaft interessiert sind und sich persönlich für ein bewährtes und belastbares Miteinander einsetzen.

Und es braucht genau jetzt mehr Dialog und nicht weniger – sobald es die Corona-Maßnahmen erlauben auch wieder Zusammenkünfte und Begegnungen. Der interreligiöse Dialog lief lange Jahre hauptsächlich als Projekt einzelner engagierter Personen oder Organisationen. Jetzt ist es notwendig, diese gelegten Fundamente des Vertrauens zu nützen und einen noch wesentlich breiteren Dialog auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu fördern – innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft, zwischen den Religionen und mit allen Menschen guten Willens.

Stellen wir uns als Menschen, die Werte wie Respekt, Nächstenliebe und Mitgefühl hochhalten, vor allem gegen jede Fratze des Antisemitismus, gegen jeden Ausdruck des Hasses gegenüber Fremden und gegen jeden Spaltungsversuch unserer Gesellschaft. Treten wir ein für eine starke und wache Zivilgesellschaft und für das hohe Gut der Freiheit und des Lebens, das uns von Gott geschenkt ist.

 

Ein offener Brief von Hermann Glettler, Bischof der Diözese Innsbruck, und Magdalena Modler-El Abdaoui, Beauftragte für den interreligiösen Dialog der Diözese Innsbruck 

Die Diözese Innsbruck ruft zu sozialem Zusammenhalt auf. Foto: Pixabay/Linus Schütz